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Die Erfindung des Lebens: Roman

Die Erfindung des Lebens: Roman

Titel: Die Erfindung des Lebens: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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sein können, dass ich unter diesen Schülern der jüngste war, doch ich dachte nicht einmal über so etwas nach, weil ich den Eindruck hatte, keine Fortschritte zu machen, sondern mich immer mehr zu verzetteln.
    Dieser Eindruck entstand auch dadurch, dass ich es plötzlich mit ganz anderen Kompositionen und Komponisten zu tun bekam. An erster Stelle stand nämlich nun Bach, Bach und noch einmal Bach. Das Wohltemperierte Klavier und Die Kunst der Fuge bildeten gleichsam das meditative Zentrum des Unterrichts, um das sich die anderen Werke und Komponisten nur wie ferne Trabanten gruppierten. Ich spielte Händel, Corelli und Gluck, ich studierte die Sonaten Mozarts und Beethovens, danach aber war vorerst Schluss, als drohte von Komponisten wie Schumann, Brahms oder Liszt eine große Gefahr.
     
    Im Grunde widmete ich mich also einer Musik, die noch in einer mehr oder weniger engen Verbindung zum Glauben und zur Religion stand, man schätzte und liebte die Werke der frühen Meister (wie etwa Monteverdi), und man untersuchte Stücke der sogenannten Geistlichen Musik , als bildeten sie bis in die Gegenwart die eigentlichen Fundamente der gesamten Musikentwicklung. Selbst die am Ende dieser Phalanx auftauchenden Komponisten wie Mozart, Haydn und Beethoven hatten anscheinend noch gebetet und den Kontakt mit Gott nicht verloren, während man sich im Falle Schumanns schon nicht mehr sicher war, ob er Musik überhaupt in irgendeiner Form mit Gott und der Religion in Verbindung gebracht hatte.
     
    Dass ich Schumanns Stücke und die der Späteren nicht mehr spielen, sondern mich stattdessen in eine von Woche zu Woche unübersichtlicher werdende Zahl von viel älteren Kompositionen vertiefen sollte, fiel mir anfangs sehr schwer. Die Folge war, dass ich diese Kompositionen lustlos und mechanisch einstudierte, um sie möglichst schnell nicht mehr spielen zu müssen. So hetzte ich von einem Stück und einem Komponisten zum andern, von der Technik her waren diese Sachen ja kein Problem, gerade die scheinbare Anspruchslosigkeit der Stücke aber war andererseits auch der Grund dafür, dass ich glaubte, immerzu auf der Stelle zu treten, ja letztlich immer nur ein und dasselbe Stück zu spielen.
     
    Nun kann man sich nicht vorstellen, dass ein elf- oder zwölfjähriger Junge das alles bereits in voller Klarheit wahrnimmt, um daraus die Konsequenzen zu ziehen und vor seinen Lehrer mit den Worten Ich möchte endlich wieder Schumann spielen! zu treten.
    In voller Klarheit also war mir sicher nicht bewusst, welchem Umerziehungsprogramm man mich damals unterzog, andererseits spürte ich aber, dass meine Lust am Klavierspiel merklich nachließ und ich immer häufiger das Gefühl einer starken Eintönigkeit hatte. Dabei hätte ich nicht einmal behauptet, dass mir die Stücke, die ich nun einstudierte, nicht gefielen, nein, das war es nicht, ich hatte nur den Eindruck, dass meine Lehrer es bei ihrer Auswahl mit der religiösen und meditativen Ausrichtung einfach übertrieben. Zu viel Glaube, zu viel Versenkung und Einkehr – am liebsten hätte ich es einmal klipp und klar gesagt: Es ist einfach zu viel …
    Ich besuchte das Internat doch nicht, um einmal unter die musizierenden Engel eingereiht und im Himmel des Glaubens mit bedeutenden Aufgaben betreut zu werden, nein, verdammt, ich wollte ein Stern am irdischen Pianistenhimmel und damit an jenem Himmel werden, in dem Walter Fornemann angeblich für mich bereits einen Platz reserviert hatte …
     
    Wenn ich nun dieses Resumé überblicke, komme ich von heute aus zu einem schlichten Ergebnis: Das System Internat war für mich ein einziges Zuviel an verlorener Zeit und an menschlicher Gruppen-Präsenz! Zu viel Zeit ging mit unendlich vielen, kleinteiligen Nebentätigkeiten verloren, zu viel Zeit galt dem Einstudieren von belanglosen Klavierstücken und noch viel belangloserer Kammermusik, und zu viel Zeit verwendete ich allein schon darauf, mir im üblichen Getümmel der Tagesgeschäfte einige freie Augenblicke zu verschaffen. Und das alles ereignete sich auch noch in einem Zuviel an Menschen um mich herum, deren dauernde Gegenwart doch ebenfalls Kraft und Aufmerksamkeit kostete und manchmal geradezu erstickend wirkte!
     
    Wie aber reagierte ich nun auf diese Verengung von Zeit und Raum? In der ersten Zeit reagierte ich instinktiv, indem ich das Klavierüben immer mehr vernachlässigte und mich nach etwas anderem umschaute. Dieses andere war das Orgelspiel, in das einige wenige begabte

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