Die Erfindung des Lebens: Roman
sein kann, sollte eine Zeit lang allein durch einen großen Wald gehen und, wann immer ihm danach ist, zu schreien beginnen. Es sollte aber ein lautes, unermüdliches Schreien sein, bis hin zur Erschöpfung, am Ende sollte man vergessen haben, was einen umtreibt, man sollte nur noch den Körper spüren, sein Zittern, seine Ermattung …
Aber zurück zu meiner Flucht. Natürlich wusste ich, dass ich nicht tagelang unterwegs sein konnte und man mich zur Rechenschaft ziehen würde, aber vorläufig war mir das gleichgültig. Ich hatte die anderen nicht verlassen, um ihnen irgendetwas zu beweisen oder um sie zu beunruhigen, nein, ich hatte nur mir selbst beweisen wollen, dass die alten Träume und Phantasien noch in mir lebten. Ich war noch nicht ganz der Lethargie verfallen, nein, ich war noch nicht gestorben, etwas Text und eine Unmenge von guter Musik steckten noch in mir.
Wenn ich mich irgendwo in den Schatten legte und auf dem Rücken wegträumte, begann der Text sogar von alleine zu wachsen. Ich schloss die Augen und hörte alles genau, Satz für Satz: Am Morgen stand die Sonne hoch, und im Zelt begann es heiß zu werden. Nick kroch unter dem Moskitonetz, das vor den Zelteingang gespannt war, heraus, um sich den Morgen zu betrachten. Das nasse Gras netzte seine Hände, als er herauskam. Er hielt seine Hosen und Schuhe in den Händen. Die Sonne war gerade über dem Hügel aufgegangen. Dort waren die Wiese, der Fluss und der Sumpf. Dort waren Birken im Sumpfgrün auf der anderen Seite des Flusses …
Am zweiten Abend meiner Flucht ließ ich mich auf eine kleine Ortschaft zutreiben und telefonierte von der ersten Telefonzelle, auf die ich traf, mit dem Kloster. Ich nannte meinen Namen und bat darum, mit dem Abt verbunden zu werden, nach einer kurzen Pause hörte ich seine Stimme.
Er wirkte nicht einmal besonders erstaunt oder aufgeregt, sondern wollte nur wissen, wo ich mich befand und ob ich gesund sei. Ich nannte den Namen des Ortes, von dem aus ich anrief, und sagte, dass ich großen Hunger hätte. Der Abt erwiderte, dass ich in die Mitte des Ortes gehen und auf dem Platz neben der Kirche warten solle. Ich sei etwa zwanzig Kilometer vom Kloster entfernt, er werde einen Wagen schicken.
Ich bedankte und wunderte mich, dass er nicht weiter nachfragte. Als ich noch etwas zögerte und nicht sofort auflegte, hörte ich ihn dann aber doch fragen: Hast Du mir etwas zu sagen, Johannes? Ich dachte keinen Moment nach und antwortete schnell: Ich kann mir das alles auch nicht erklären, ich habe mich wohl verlaufen. Ich hörte das plötzliche Schweigen am anderen Ende des Hörers, einen Moment glaubte ich den Abt beinahe zu sehen, wie er nachdachte und sich um eine kluge Antwort bemühte. Dann aber hörte ich ihn sagen: Ja, das glaube ich auch, ich glaube auch, Du hast Dich verlaufen.
Neben der Kirche des Ortes wartete ich etwa eine halbe Stunde auf den Wagen. Einer der jüngeren Mönche, der im Internat Geographie und Geschichte unterrichtete, holte mich ab. Ich gab ihm die Hand und setzte mich dann neben ihn in den Wagen. Bevor wir losfuhren, schaute er mich von der Seite her an: Wo hast Du Dich denn herumgetrieben? Ich sagte ihm, dass ich vom Parkplatz des Lebensmittelmarktes aus in das tiefer gelegene Waldstück gelaufen sei, um dort zu urinieren, in diesem Waldstück hätte ich mich dann wohl verlaufen, es sei wie verhext gewesen, ich hätte den Ausgang aus dem Waldstück einfach nicht mehr gefunden. Und das sollen wir Dir glauben? , fragte der junge Mönch und fuhr endlich los.
Während der Fahrt unterhielten wir uns nicht mehr, ich hatte die ganze Zeit das Gefühl, als wäre meinem Fahrer aufgetragen worden, so wenig wie möglich mit mir zu sprechen. Stattdessen räusperte er sich mehrmals und stöhnte zwei-, dreimal vor sich hin, als wollte er mir zeigen, dass ich der Gemeinschaft und besonders ihm unnötige Arbeit machte. Um ihm zu zeigen, dass ich ihn verstanden hatte, sagte ich schließlich mitten in die Stille Es tut mir leid , schwor mir danach aber sofort, keinen weiteren Satz mehr zu sagen.
Als wir das Klostergebäude erreichten, sah ich, dass der gesamte Internatsflügel heller erleuchtet war als sonst. In einigen Fenstern bewegten sich Schüler und schauten hinab auf den Hof, wo ich aussteigen musste. Ich wollte die kleine Strecke bis zum Eingang ins Foyer des Klosters, wo mich der Abt angeblich erwartete, rasch zurücklegen, als ich meinen Vater im Eingang des Klosters erkannte.
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