Die Erfindung des Lebens: Roman
bis das Küchenpersonal den Raum verlassen hatte, dann sagte er: Wir haben schon von Dir gehört, dass Du Dich verlaufen hast. Ich nickte, ja, ich bestätigte, dass ich mich verlaufen hatte. Gleichzeitig haben wir von Deinem Vater gehört, dass Du Dich unmöglich verlaufen haben kannst.
Ich erstarrte: Was meinte er denn? Hatte Vater so etwas gesagt, hatte er das wirklich gesagt?
Johannes, hörte ich Vater sagen, Du hast Dich doch nicht verlaufen! Wir beide sind doch nicht jahrelang und immer wieder in ausgedehnten Wäldern und auf weiten Fluren unterwegs gewesen, damit Du hier erzählen kannst, Du habest Dich in einem kleinen Wäldchen verlaufen. Wo willst Du Dich denn verlaufen haben, wo denn?!
Vater beugte sich etwas zur Seite, als ich die Aktentasche neben seinem Stuhl stehen sah. Ich schaute auf das alte, braune Lederstück, auf das ich als kleines Kind immer geblickt hatte, wenn er am Nachmittag den großen, ovalen Platz vor unserem Kölner Wohnhaus überquert hatte. Ich wusste jetzt genau, was sich in dieser braunen Aktentasche befand, ganz genau wusste ich, was Vater jetzt aus der Tasche hervorziehen würde.
Dazu aber hörte ich seine Stimme, ich hörte sie natürlich nicht wirklich, noch sagte Vater kein Wort, aber ich hatte sie doch bereits im Ohr, Wendung für Wendung, so dass ich, als das Messtischblatt auf dem Tisch ausgebreitet und glatt gestrichen wurde, mit der Sprache meines Vaters zu sprechen begann: Wir befinden uns jetzt genau hier, der Lebensmittelmarkt befindet sich genau dort. Unterhalb des Parkplatzes liegt das bewusste Wäldchen, genau hier. Von dort aus habe ich mich nach Süden bewegt, weg vom Parkplatz, in Richtung dieser Lichtung hier. Unterhalb fließt ein Bach, den ich überquert habe, von dort aus ging es weiter, genau hier entlang, durch den nächsten, sich anschließenden Wald. Hier, wo er aufhört, befindet sich ein Hochsitz. Ich bin hinaufgeklettert und habe etwas Luft geschnappt. Nach einer längeren Pause habe ich die daneben liegende Lichtung überquert und bin in die kleine Schlucht eingedrungen, die sich nach Westen hin anschließt.
Ich habe mich auf direktem Weg von dem Parkplatz entfernt. Ich hatte den zurückgelegten Weg dabei exakt im Kopf und orientierte mich an der Abendsonne. Ich wusste immer genau, wo ich mich jeweils befand. Ich wollte fort, ich wollte mich vom Parkplatz und vom Kloster entfernen. Ich möchte nicht länger im Internat bleiben. Ich möchte für immer fort.
32
IN DEN letzten Tagen bin ich einige Male im Hausflur stehen geblieben und habe auf Mariettas Klavierspiel geachtet. Es ist wirklich erstaunlich, sie übt jetzt ganz anders als früher und oft mehrmals am Tag, jedes Mal etwa zwanzig bis dreißig Minuten.
Ich höre, dass sie begonnen hat, mit dem Klavier zu spielen, sie spielt sich zunächst etwas ein, indem sie eine Melodie oder ein kleines Lied intoniert, dann folgen meist ein paar Akkorde die ganze Tastatur hinauf und hinab. Schließlich widmet sie sich zwei, drei kleinen Stücken, jedes aus einem anderen Genre.
Auch klassische Musik behandelt sie jetzt so, dass sie zum Beispiel eine Sonate nicht in voller Länge und nicht Satz für Satz einstudiert, sondern meist nur einen einzigen Satz übt und ihn dann mit anderen Klavierstücken verbindet. Dabei stellen sich ganz ungeahnte, überraschende Effekte ein: Ein Stück Ragtime und danach der langsame Satz einer Mozart-Sonate, ein Tanzstück aus einer Suite von Händel und danach ein Tango!
Marietta hat gerade an diesen Kontrasten großen Gefallen gefunden, und die Freude, die ihr die Musik seit Neustem macht, ist schon daran zu erkennen, dass sie sich immer neue CDs ausleiht und sie auf Stücke hin durchhört, die sie dann unbedingt spielen möchte.
Außerdem aber gibt es noch eine weitere kleine Veränderung, die bisher niemandem außer mir aufgefallen ist: Marietta hat den Sitz ihres Klavierhockers etwas tiefer gedreht und berührt jetzt während des Übens mit ihren Füßen die Erde! Als ich Antonia darauf aufmerksam machte, reagierte sie, als wäre diese Veränderung nichts Besonderes, ich aber weiß, dass diese Umstellung ein gutes Zeichen ist.
Marietta schwebt nämlich jetzt nicht mehr wie ein kleines Kind mit lästig hin und her pendelnden, unruhigen Beinen auf ihrem Sitz, sondern sucht den Bodenkontakt und die Haftung. Das aber zeigt mir, dass sie nicht mehr die übende Puppe sein will, die man einfach vor ein Klavier gesetzt hat, weil die Eltern das nun einmal so
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