Die Erfindung des Lebens: Roman
wollten, sondern dass sie ein junges Mädchen sein möchte, das Klavier übt, wann immer es sich dafür entscheidet.
Sie springt an das Instrument, sie zieht den Klavierhocker ein Stück beiseite, schwingt sich darauf, rückt ihn zurecht, und schon geht es los! Früher näherte sie sich dem Instrument sehr vorsichtig und als ginge von ihm etwas Einschüchterndes aus, jetzt aber geht sie mit ihm wirklich so um, als gehörte es ganz selbstverständlich zu ihrem Leben.
Ich habe ihren neuen Schwung noch dadurch weiter angefacht, dass ich ihr vorgeschlagen habe, auf dem großen Platz vor unserem Haus einmal ein kleines Konzert im Freien zu geben. Wie soll das denn gehen?, hat sie sehr ernsthaft gefragt, und ich habe ihr vorgeschlagen, dass wir einen Flügel ausleihen und auf einem kleinen Podium in der Mitte des Platzes postieren. Weiter habe ich ihr angeboten, mich um Scheinwerfer, die passende Beleuchtung und Sitzreihen mit Stühlen zu kümmern, wir sollten uns das durch den Kopf gehen lassen , habe ich abschließend gesagt und das Thema damit vorläufig beendet. Ich weiß aber genau, dass Marietta weiter darüber nachdenkt, und ich hoffe insgeheim, dass sie irgendwann von allein wieder auf das Thema zurückkommt.
In den Gesprächen mit ihr mache ich so etwas oft, ich tippe ein Thema bloß an und komme irgendwann dann wieder darauf zurück. Kinder in Mariettas Alter, denke ich, lieben das monotone Erwachsenen-Grübeln nicht, sie wollen leicht und möglichst abwechslungsreich unterhalten werden und mit den Themen jonglieren, anstatt sie Punkt für Punkt durchzugehen. Am einfachsten ist es, genau hinzuhören und zu beobachten, wie sie selbst etwas erzählen, und dann in ganz ähnlicher Form darauf zu reagieren. In Mariettas Fall habe ich damit jedenfalls großen Erfolg, denn inzwischen erzählt sie mir sogar Dinge, die vor ein paar Monaten noch völlig tabu waren. So weiß ich zum Beispiel nun, dass sie die Trennung ihrer Eltern viel weniger schlimm findet als ihre Mutter das früher vermutete. Sergio, ihr Vater, wohnt zwar jetzt etwa zehn Minuten entfernt, auf der anderen Seite des Tibers, sie kann aber, wann immer sie will, mit ihm telefonieren, ihn besuchen, mit ihm ein Eis essen gehen oder am Wochenende mit ihm in die Albaner-Berge fahren, wo die Großeltern wohnen. Das alles ist kein Problem, ja es ist sogar alles viel besser als früher, als die Familie zu dritt unterwegs war und die Eltern sich angeblich laufend stritten. Was haben sich Mamma und Papa gestritten, was haben sie sich gestritten! , sagt Marietta und schaut mich dabei nicht an. Über die Ehe ihrer Eltern redet sie, als wäre sie eine ältere Verwandte mit einer jahrzehntelangen Lebenserfahrung.
Dass ihr Vater Sergio Journalist bei einer römischen Tageszeitung ist, wusste ich schon, erst Marietta versorgte mich dann aber mit Nachrichten über das, was er schreibt und wofür er sich von Berufs wegen interessiert. Manchmal zeigt sie mir sogar einen Artikel, den ihr Vater extra für sie ausgeschnitten und ihr dann geschenkt hat. Sie klebt diese Artikel auf ein Blatt Papier und reiht sie in große Ordner ein, Sergio schreibt wirklich gut , sagt sie, wenn sie in einem der Ordner blättert, danach aber seufzt sie kurz, als werde sie nie seine stilistische Brillanz erreichen, und stellt den Ordner schließlich wieder an seinen Platz.
Obwohl sie mir wirklich viel erzählt und wir beinahe jeden Tag miteinander sprechen, weiß ich doch nicht genau, was sie von mir hält. Ich selbst habe das Gefühl, als wären wir gute Freunde, wozu denn auch passt, dass wir die wöchentliche Unterrichtsstunde aufgegeben haben und uns zusammen ans Klavier setzen, wann immer es uns gerade gefällt. Kommst Du später mal auf eine halbe Stunde vorbei? , ruft Marietta, und dann komme ich später einmal vorbei, um mir anzuhören, wie sie ein bestimmtes Klavierstück angeht und übt.
Bisher haben wir uns noch kein einziges Mal gestritten, ja es gab nicht einmal eine richtige Meinungsverschiedenheit. Nur als ich ihr vorschlug, auch einmal zusammen in die Oper zu gehen, lehnte sie ab, und als ich sie fragte, warum sie denn ausgerechnet dieses Angebot so entschieden ausschlage, antwortete sie, dass die Menschen sich in Opern immer so heftig streiten würden und dass sie solche Streitereien einfach nicht sehen und hören wolle. Gibt es Opern, in denen sich Menschen nicht streiten? Gibt es das? Gegenwärtig bin ich dabei, mir das genauer zu überlegen.
Antonia, mit
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