Die Erfindung des Lebens: Roman
zu üben, dann aber würde er weiterziehen, still und glücklich darüber, nicht ununterbrochen etwas tun zu müssen, das ihn vom Klavierüben abhielt.
In den kleinen Dörfern, in die er während seiner Wanderungen geriet, würde er hier und da während einer Hochzeit oder einer anderen festlichen Gelegenheit die Orgel spielen, so würde er sich etwas Reisegeld verdienen. Sonst aber würde er ein leichtes, sorgloses Leben führen, und dieses Leben wäre genau das richtige, ja im Grunde das einzig richtige Leben für einen Jungen in seinem Alter.
Während derartige Phantasien immer aufdringlicher wurden, lebte ich immer unauffälliger. Nichts von dem, was mich wirklich beschäftigte, sollte nach außen dringen. Dieser Konflikt führte mit der Zeit zu beinahe trancehaften Bewegungen, ich schlich durch die langen Flure und Korridore des Internats wie ein Heimlichtuer, ich duckte mich weg, am liebsten wäre mir gewesen, ich hätte mich ganz in Luft auflösen können. Auf Fragen reagierte ich kaum noch, ich tat meine Pflicht, fiel nirgends auf und erschrak höchstens ein wenig, wenn ein Mitschüler mir in die Quere kam: Na, Johannes, mal wieder ganz woanders?!
Ja, natürlich, ich war ganz woanders, vom frühen Morgen an war das bereits so. Die Schulstunden und das sich daran am Nachmittag anschließende Unterrichtsprogramm brachte ich regungslos hinter mich, und die einzige Freude am Tag war jener Moment, wenn ich auf der hochgelegenen Orgelempore die Orgelbank bestieg und die ersten Töne erklangen. Manchmal hielt ich sofort inne und lauschte ihnen nach, um sie dann noch einmal langsamer zwei- bis dreimal zu wiederholen. Auch die Musik sollte mir keine Tempi mehr vorschreiben, auch sie sollte mich nicht beherrschen.
Dann aber wurde es mir zu viel. Ich hatte mir nicht lange überlegt, was ich konkret tun konnte, nein, ich hatte solche Überlegungen meist gleich wieder aufgegeben, weil ich mit ihnen einfach nicht weiterkam. Was damals an einem Nachmittag geschah, geschah also ohne jede Planung, es geschah plötzlich, ich hatte es selbst nicht erwartet, nein, es passierte einfach.
An diesem Nachmittag hatte ich in der Internatsküche gearbeitet und danach den kleinen Transport begleitet, der hinauf in die nahe gelegene Ortschaft fuhr, um die Küchenvorräte zu erneuern. Ich hatte das schon mehrmals getan, diesmal aber ergab es sich zufällig, dass ich allein in der Nähe des Transportwagens auf die anderen Schüler und zwei Patres wartete, die in den Lebensmittelmarkt gegangen waren, um die Waren zu holen und dann im Wagen zu verstauen.
Ich stand also auf dem Parkplatz und blickte auf das weite, umgebende Land, auf der nahen Landstraße fuhren zwei langsame Traktoren dicht hintereinander her, es war ein warmer Tag im Frühsommer, in der Ferne schien die Luft sogar bereits zu vibrieren.
Da spürte ich plötzlich das ganze Elend meiner Lage: Gleich würde ich wieder mit hinunter ins Kloster fahren, um mich dort abfüttern zu lassen und ins Bett zu legen. Ein Tag nach dem andern würde jetzt auf diese Weise vergehen, noch viele Jahre bis zum Abitur. Bis dahin aber hätte ich meine pianistischen Fähigkeiten wahrscheinlich verloren, oder ich hätte sie eingetauscht gegen die Fähigkeit, eine Gemeinde während eines Gottesdienstes auf der Orgel bei ihrem Gesang zu begleiten. Nach einem solchen Gottesdienst wäre mir höchstens noch ein kurzes Solo gestattet worden: Etwas Händel, etwas Pachelbel oder Buxtehude, schon Max Reger aber hätte ich nicht spielen dürfen, denn die Orgel-Stücke von Reger gehörten bereits einer Musik-Epoche an, in der beinahe nur noch Verwirrte oder absonderliche Genies für die Orgel komponiert hatten …
Es war eine Entscheidung von Sekunden, und in diesen Sekunden dachte ich nur darüber nach, wieviel Geld ich gerade dabeihatte. Es war jämmerlich wenig, aber immerhin, ich hatte etwas dabei. Ich wollte weg, und zwar sofort! Ich schaute mich noch einmal nach den anderen um, dann entfernte ich mich von dem Internats-Wagen. Zunächst ging ich noch langsam, wie zur Probe oder als wäre mir langweilig. Ich schlenderte ein wenig daher, bewegte mich jedoch schon auf die abgelegene Seite des Parkplatzes zu. Dahinter fiel das Gelände steil ab, und kaum hundert Meter entfernt in der Tiefe erschien an dem steilen Hang ein größeres Waldstück.
Ich dachte nicht weiter nach, sondern verließ den Parkplatz und lief den Abhang hinab auf das Waldstück zu. Als ich es erreichte, wusste
Weitere Kostenlose Bücher