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Die Erfindung des Lebens: Roman

Die Erfindung des Lebens: Roman

Titel: Die Erfindung des Lebens: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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ich sofort, dass sie mich hier nicht suchen würden. Sie ahnten ja nicht, dass ich mich absetzen wollte, sie ahnten überhaupt nichts. Einen flüchtigen Schüler würde man suchen und verfolgen, ich aber war in ihren Augen kein Flüchtling. Sie würden sich meine Abwesenheit nicht erklären können und vielleicht vermuten, ich hätte eine Toilette aufgesucht. Sie würden nachschauen, auf der Toilette natürlich und rund um das große Marktgebäude. Irgendwann aber würden sie aufgeben und ohne mich zurückfahren. In der Abtei würden sie sagen, sie könnten sich meine Abwesenheit nicht erklären, ich sei wie vom Erdboden verschluckt gewesen.
     
    Als ich das alles im Kopf durchgespielt hatte, war ich erleichtert. Was konnte denn schon passieren? Ich hatte einfach getan, was ich tun musste. Wenn es ewig so weitergegangen wäre, würde ich vielleicht schon bald keinen einzigen Satz mehr sprechen. Ich würde wieder in dem hilflosen Leben ankommen, das ich bereits als Kind geführt hatte, ich würde ein stummer, Orgel spielender Idiot werden, den man die weiteren Jahre verstärkt mit Küchen- und Garten-Diensten beschäftigt, bei dem man wegen seiner Hilfsbereitschaft aber nicht so streng auf die sonstigen schulischen Leistungen geschaut hätte.
    Johannes, hörst Du mich? Ein paar Mal hatte ich eine solche Frage eines Lehrers bereits schon wieder zu hören bekommen. Johannes ist wieder in seiner eigenen Welt …- auch das hatte ich schon ein paar Mal wieder gehört. Solche Fragen und Bemerkungen erinnerten mich an früher, und wenn ich mich auch nur entfernt an diese früheren Tage erinnerte, stieg sofort die kalte Angst in mir hoch. Noch einmal würde ich das alles nicht mitmachen, noch einmal nicht! Lieber würde ich irgendwo abtauchen, in die Tiefe eines Flusses, um in dieser Tiefe für immer zu verschwinden …
     
    Eine Nacht und insgesamt etwa anderthalb Tage hielt ich durch. Ich bewegte mich so voran, wie es mir gerade gefiel, und vermied es dabei, auf den Landstraßen zu laufen. Stattdessen blieb ich meist in den Wäldern und folgte den schmalen Waldwegen und Forstpfaden. Am ersten Abend entdeckte ich eine Jagdhütte, machte mir dort ein kleines Feuer und saß dann die ganze weitere Nacht still in seiner Nähe, bis ich müde wurde und unter dem Vorbau der verschlossenen Hütte einschlief.
    In der Nacht wurde mir kühl, ich stand auf, bewegte mich ein wenig und legte weiteres Holz in das Feuer. Ich schlief wieder ein und wachte erst beim Morgengrauen auf, dann ging ich los, nicht ohne vorher das Feuer gelöscht zu haben.
    Am Mittag plagte mich dann der Hunger. Ich überlegte, ob ich mir in einer Ortschaft etwas zu essen beschaffen sollte, entschied mich jedoch dagegen. Stattdessen begann ich, nach Waldfrüchten zu suchen, entdeckte aber nur eine kleine Lichtung, an deren Rand sich ein paar verkümmerte Brombeer- und Himbeersträucher befanden. Ich aß die teilweise noch unreifen Früchte und nahm mir vor, lieber mehr zu trinken als weiter nach Essbarem zu suchen. Etwas zu trinken zu finden, war nicht schwer, in der Gegend war es selbst im Sommer in den Wäldern sehr feucht, und man hörte häufig das Rauschen irgendeines Baches, wenn man nur hier und da stehen blieb.
     
    So bewegte ich mich weiter, ohne einem Menschen zu begegnen. Ich fühlte mich erleichtert, als hätte ich zumindest für kurze Zeit das rettende Ufer erreicht. Im Verlauf des Morgens hatte sich diese Erleichterung immer mehr verstärkt, ich spürte genau, wie sich etwas in mir löste und ich langsam ruhiger und ruhiger wurde. Es war, als hätte ich riesige Gewichte, die ich vorher noch gebuckelt hatte, am Wegrand zurückgelassen.
    Als ich eine besonders weite Lichtung erreichte und über die nächsten Höhenkämme hinwegschaute, hatte ich auf einmal sogar ein solches Freudengefühl, dass ich vor lauter Glück zu schreien begann. Erst war es nur ein kurzer, heller Schrei, wie der Schrei eines Tieres, dann aber schrie ich immer lauter, als müsste ich die ganze unsinnige Verkrampfung der letzten Monate und Jahre aus mir herausbrüllen.
    Es ist gar nicht zu glauben, wie gesund und erleichternd ein solches Schreien sein kann. Der ganze Körper öffnet sich, ja es ist, als würde man sich langsam die Haut abziehen, aber auf angenehme Weise und daher ohne dass es irgendwo schmerzt. Ein Sich-Schütteln ist es, ein Ausspeien des Fremden, ein Hinübergleiten in eine andere Existenz! Wer Opern nicht erträgt oder nicht begreift, was das Schöne an Opern

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