Die Erfindung des Lebens: Roman
ihnen nicht her.
So konnte ich die geheimen Ursachen meines fortschreitenden Rückzugs auf mich selbst mit niemandem besprechen. Die einzige Unterhaltung, die es noch für mich gab, bestand im Kontakt mit den Büchern, die ich meist von zu Hause mitbrachte, da ich in der Internatsbibliothek nicht die richtige Lektüre fand. Unter ihnen gab es ein Buch mit Kurzgeschichten, das seltsamerweise mein Vater, der sich sonst um meine Lektüren nicht kümmerte, mir geschenkt hatte.
Es waren Geschichten von Ernest Hemingway mit dem Titel In unserer Zeit , bei deren Lektüre ich sofort verstand, warum sie Vater so gefallen hatten. All diese Geschichten handelten nämlich auf verblüffende Weise von Erfahrungen, die Hemingway selbst in seiner Kindheit und Jugend auf dem Land gemacht hatte. Um diese Erfahrungen zu beschreiben, hatte er sich eine Stellvertreter-Figur mit Namen Nick Adams entworfen. Nick Adams war ein Junge meines Alters, der in einigen Kurzgeschichten sogar wie ich selbst mit seinem Vater in der freien Natur unterwegs war. Vater und Sohn unterwegs – zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich es mit einer Lektüre zu tun, die ich so las, als handelte sie beinahe ausschließlich von meinem eigenen Leben.
Vor allem zwei Geschichten waren es, in die ich mich immer wieder vertiefte, sie hatten die Titel Großer doppelherziger Strom I und Großer doppelherziger Strom II und erzählten sehr detailliert von Erlebnissen des jungen Nick beim Fischen in einem ländlichen Fluss. Die Schilderungen des Lebens an diesem Fluss, besonders aber die Schilderungen der Natur-Beobachtungen des jungen Nick erinnerten mich derart stark an alles, was ich selbst an dem kleinen Flüsschen neben der großelterlichen Gastwirtschaft erlebt hatte, dass ich viele Sätze bald auswendig kannte.
Das Schöne an diesen Sätzen aber war, dass es sehr einfache, schlichte Sätze waren, ungefähr von der Art, wie ich früher selbst welche in meine Notizhefte eingetragen hatte. Nie hätte ich geglaubt, dass anerkannte und große Schriftsteller solche Sätze benutzten, umso häufiger und gieriger wiederholte ich einige von ihnen nun im Stillen. Oft stellte sich dabei die täuschende Empfindung ein, es wären meine eigenen Sätze: Der Fluss strömte klar und schnell dahin … Ungefähr zweihundert Meter weiter unten lagen drei Baumstämme quer über den ganzen Fluss … Oberhalb war das zurückgedämmte Wasser glatt und tief.
Die beiden schönsten Sätze aber handelten davon, dass der junge Nick von einer kleinen Brücke über dem Fluss aus eine Forelle im Wasser erkannte: Nicks Herz zog sich zusammen, als die Forelle sich bewegte. Er fühlte all die guten Gefühle. In diesen beiden Sätzen war sehr einfach, aber doch genau ausgesprochen, was ich so häufig selbst am Fluss erlebt hatte: das Sich-Zusammenziehen des Herzens, ein kurzes Luftanhalten, eine Erstarrung, einen Moment des tiefen Glücks.
Wenn ich am frühen Abend im Schlafsaal des Internats solche Sätze und Geschichten las, überfiel mich eine so starke Sehnsucht nach dem Draußen, der Vergangenheit und dem Leben auf dem Land, dass ich hinterher oft wie betäubt durch die Klosterräume streifte, um hier und da wenigstens einen Luftzug oder einen Blick durch ein Fenster auf eine brachliegende Wiese zu erhaschen. Und wenn ich dann später in der Nacht einschlafen sollte, gelang das oft nicht, weil Hemingways Geschichten mich so sehr beschäftigten und meine Phantasie derart in Bewegung hielten, dass mich eine starke Unruhe befiel.
Aus dieser Unruhe heraus entstanden denn auch zum ersten Mal jene Bilder, die mich in der Folgezeit beinahe täglich heimsuchten und mich dann jahrelang nicht losließen. Auf diesen Bildern war ich allein in einer weiten, menschenleeren Landschaft unterwegs, ich trug einen kleinen Seesack mit ein paar Utensilien und mit zwei, drei Büchern sowie einem Notizheft, und ich kehrte nachts in irgendeinem kleinen Dorf ein, wo man mir in einem Gasthof ein Abendessen spendierte und ein Nachtlager einräumte.
Immer wieder waren es diese Bilder des Alleinseins und des dauernden Unterwegs-Seins, die mich verfolgten, es waren Bilder, die Hemingways Nick-Adams-Geschichten noch einmal erzählten und dabei in den Details beinahe mit denselben Bestandteilen auskamen. Nur war Nick Adams jetzt ein Junge, der sich danach sehnte, überall und wann immer er wollte, Klavier spielen zu dürfen. Hier und da auf seinen langen Wegen würde er eine Rast einlegen und haltmachen, um
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