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Die Erfindung des Lebens: Roman

Die Erfindung des Lebens: Roman

Titel: Die Erfindung des Lebens: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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Niemand hätte mir zu bestätigen brauchen, dass er es war, ich sah es sofort: seine große, stolze Gestalt, das weiße, weit offen stehende Hemd, der ruhige Blick. Er bewegte sich nicht, sondern wartete darauf, dass ich zu ihm kam. Mich selbst aber erschreckte seine Erscheinung so sehr, dass ich stehen blieb. Ich presste die Lippen fest zusammen, nein, ich durfte jetzt auf keinen Fall weinen, jetzt nicht, wo ich von so vielen Mitschülern beobachtet wurde. Hier und da öffneten sich bereits einige Fenster, ein Rufen und Schreien war zu hören, doch wurden die Fenster, anscheinend auf Geheiß der Lehrer, die sich ebenfalls in den Fluren aufhielten, sofort wieder geschlossen.
    Verdammt! Ich konnte doch nicht weiter im Hof stehen bleiben und mich von allen angaffen lassen! Ich drehte den Kopf etwas zur Seite und spuckte den weichen Klumpen aus, der mir im Hals steckte, dann ging ich auf meinen Vater zu. Ich sah, dass er mich ununterbrochen anschaute, er ließ den Blick wahrhaftig die ganze Zeit auf mir ruhen. Als ich ihn aber erreichte, streckte er plötzlich die rechte Hand aus und führte sie mit einer unerwarteten Geste nach hinten, an meinen Hinterkopf, als wollte er den Kopf dort einen Moment halten und stützen. Dann aber spürte ich, wie er ihn näher an sich heranzog und mich kurz auf die Stirn küsste.
     
    Ich hatte auch diese Geste so wenig erwartet, dass mir beim Eintritt in das Kloster plötzlich die Tränen kamen. Im Foyer standen der Abt und zwei der Patres, die mich unterrichteten. In meiner dreckigen und von der Feuchtigkeit in den Wäldern ausgebeulten Kleidung stand ich vor ihnen wie ein Hund, der sich zu lange in fremden Terrains herumgetrieben hatte. Ich gab allen die Hand, dann wurde ich gebeten, mich zu waschen und umzuziehen. In einer Viertelstunde erwartete man mich zum Abendessen.
     
    Auch auf diese Reaktion war ich so wenig gefasst, dass ich sehr unruhig in den Trakt des Internats ging, in dem sich mein Schlafsaal und meine Kleider befanden. Zum Glück war Essenszeit, so dass die Mitschüler nicht zu sehen waren. Was würde denn jetzt bloß geschehen? Dass Schüler aus dem Internat verschwanden, kam dann und wann durchaus vor. Fast immer aber waren es ältere Schüler, deren Leistungen sich verschlechtert hatten oder die sich irgendetwas zuschulden hatten kommen lassen. All das traf auf mich nicht zu, in meinem Fall war die Sache viel komplizierter.
    Im Grunde wollte ich das Internat, so schnell es irgend ging, verlassen. Nicht, weil ich mich mit bestimmten Lehrern angelegt hätte oder mit dem Schulstoff nicht zurechtgekommen wäre, auch nicht, weil mich der starke Akzent, der hier auf dem Glauben lag, bedrückt hätte. Das System Internat war vielmehr als Ganzes einfach nichts für mich, denn es machte aus mir einen Menschen, der ich auf keinen Fall sein wollte. Nein, ich wollte kein Schweiger werden, nein, ich wollte nicht mein Leben lang nur die Orgel spielen, und nein, ich wollte meine musikalische Laufbahn nicht mit Kompositionen von Mozart beenden, und wären sie auch noch so schön!
     
    Der Abt hatte angeordnet, dass wir beim Abendessen zu viert waren. So saß ich an einem runden Tisch zusammen mit dem Abt selbst, meinem Vater und meinem Klassenlehrer, einem Mönch mittleren Alters, der mich in Latein und Griechisch unterrichtete. In den Jahren zuvor hatte ich mit diesem Lehrer kaum einige Worte gewechselt, ich glaubte nicht, dass er irgendetwas von mir wusste, außer der Tatsache, dass ich einigermaßen gut Klavier und inzwischen auch die Orgel spielte.
    Die Speisen wurden aufgetragen, und wir begannen zu essen, ohne dass der Anlass dieser besonderen Mahlzeit erwähnt wurde. Stattdessen sprach der Abt vor allem mit meinem Vater über Köln und einige andere Orte am Rhein, anscheinend kannte er diese Orte genau und wollte einiges über ihren jetzigen Zustand erfahren.
    Ich selbst hörte aber die ganze Zeit nicht richtig hin, sondern überlegte ununterbrochen, was wohl auf mich zukommen würde. Würde man mich bestrafen? Oder würde man mir glauben, wenn ich erneut die Version, mich verlaufen zu haben, auftischte? Und wie weiter: Wenn man mich bestrafte, drohten mir einige Tage Arrest, der Ausfall mehrerer Mahlzeiten und zusätzliche Arbeitszeiten in Küche und Gärtnerei, danach aber würde wohl alles beim Alten bleiben. Wie aber musste ich reagieren und was musste ich sagen, damit eben nicht alles beim Alten blieb?
     
    Nach dem Ende des Abendessens machte der Abt ernst. Er wartete,

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