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Die Erfindung des Lebens: Roman

Die Erfindung des Lebens: Roman

Titel: Die Erfindung des Lebens: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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der ich mich oft über Mariettas Ansichten und Meinungen unterhalte, behauptet jedenfalls, ihre Tochter erfahre die Trennung ihrer Eltern inzwischen nicht mehr als eine Einschränkung, sondern im Gegenteil als eine günstige Erweiterung ihrer Lebensumstände.
    Früher habe es nur eine Wohnung mit uneinigen Eltern gegeben, jetzt aber gebe es zwei und mit meiner Wohnung sogar drei Wohnungen, in denen Marietta sich zu Hause fühle. Und da alle drei Wohnungen nicht weit voneinander entfernt seien, könne sie in jeder ein Stück des Tages mit jeweils anderen Menschen und Themen verbringen.
    Mit ihr, Antonia, bespreche sie die sogenannten weiblichen Themen, mit ihrem Vater rede sie über seine Artikel, über Sport und Politik, und in den Gesprächen mit mir schließlich gehe es um Musik. So ein Gesprächsangebot habe sie, Antonia, in ihrer Kindheit nicht gehabt, sie sei vielmehr mit zwei älteren Brüdern groß geworden, die ab einem bestimmten Alter überhaupt nicht mehr mit ihr geredet und ganz nebenbei noch das Interesse der Eltern übermäßig beansprucht hätten.
     
    Wie im Falle Mariettas sind für Antonia beinahe alle Lebensverhältnisse Teil eines psychologischen Dramas, das in allen Facetten besprochen und gedeutet werden muss. Selbst die große Geschichte, die sie ihren Schülern am Gymnasium beibringt, ist in ihrer Perspektive vor allem eine Fundgrube für solche Dramen. Schon kurz nach Beginn einer Unterhaltung geraten wir beide daher immer wieder auf die Ebene der Deutung, Antonia ist die Expertin, ich bin der Laie, man kann sich vorstellen, wie unausgeglichen solche Gespräche verlaufen und wie einseitig sie ausgehen.
    Selbst dann nämlich, wenn ich glaube, einen sicheren Treffer gelandet zu haben, zieht Antonia noch eine letzte Variante aus der Tasche und übertrumpft meine Deutung einer Geschichte mit einem letzten, schlagenden Argument. Meist gebe ich in solchen Fällen dann auf und denke im Stillen weiter darüber nach, um das Drama vielleicht irgendwann noch einmal aufrollen und mir die nächste Abfuhr vonseiten Antonias holen zu können.
    Gut, dass sie nicht weiß, worüber ich gerade schreibe! Mit vollem Elan hätte sie sich auf meine Internatsjahre gestürzt und mir erläutert, dass die Trennung von meinen Eltern mich aus dem Gleis geworfen, gleichzeitig aber auch erst jene Freiheitsimpulse freigesetzt habe, deren ein Junge in der Adoleszenz so dringend bedürfe.
    Insofern, hätte Antonia weiter behauptet, wären meine Internatsjahre keine vergeblichen Jahre gewesen, schließlich hätte ich dort gelernt, meinen eigenen Gefühlen zu vertrauen und sie auch gegenüber weit überlegenen Mächten, wie zum Beispiel denen der Kirche, auszusprechen.
     
    Einer solchen Deutung hätte ich wieder einmal nur zustimmen können, denn, ja, genau so empfand ich meine Jahre auf dem Internat aus dem Rückblick wohl auch: Als Jahre, die meine Widerstandsimpulse verstärkt und meine Selbständigkeit gefördert hatten. Im Nachhinein war ich sogar stolz darauf, sie erlebt und überstanden zu haben. Ich hatte in diesen Jahren durchaus etwas gelernt, und doch hatte ich gerade noch zum richtigen Zeitpunkt den Absprung geschafft …
     
    Noch an dem fraglichen Abend meiner Rückkehr ins Internat nämlich hatten mein Vater und der Abt in einem Zweier-Gespräch das Ende meiner Internatszeit beschlossen. Zuvor hatten wir zu dritt länger über meine Eindrücke und meine Einschätzungen des Internats-Daseins gesprochen, und ich hatte, ohne zu zögern oder irgendwelche Umwege zu machen, gesagt, wie ich die Sache sah und was ich dachte. Da die großen Sommerferien unmittelbar bevorstanden, ließ man mich ziehen und bestätigte mir später sogar noch in meinem Zeugnis, dass ich die vierte Gymnasialklasse geschafft hatte.
     
    Bereits am Morgen des nächsten Tages packte ich meine Sachen und reiste mit meinem Vater zurück aufs Land. Erst während der Zugreise erfuhr ich, dass er meiner Mutter nichts von meiner Flucht aus dem Internat erzählt hatte. Einer solchen Nachricht, behauptete er, sei sie noch immer nicht gewachsen, eine solche Nachricht würde sie weit zurückwerfen. Mir selbst aber machte er keinen einzigen Vorwurf, sondern tat stillschweigend so, als hätte ich das einzig Richtige getan.
    Als ich ihn fragte, wie es denn nun mit mir weitergehen sollte, sagte er noch während der Fahrt, dass er daran denke, mich in Köln aufs Gymnasium zu schicken. Wenn ich das ebenfalls wolle, müsste ich allerdings an jedem Morgen eine

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