Die Erfindung des Lebens: Roman
Hinfahrt von fast einer Stunde im Zug und am Mittag oder Nachmittag noch einmal eine Stunde Rückfahrt in Kauf nehmen. Das alles sei eine Strapaze, keine Frage, aber er selbst sei als Schulbub an jedem Morgen beinahe vierzig Minuten auf dem Fahrrad vom Hof seiner Eltern aus zum Bahnhof und von dort noch einmal dreißig Minuten mit dem Zug zum Gymnasium in der nächsten Kreisstadt gefahren.
Mit der Zeit habe er sich daran gewöhnt, und auch ich werde mich daran gewöhnen, außerdem könne ich unterwegs Hausaufgaben machen oder etwas lesen oder mich mit sonst etwas Interessantem beschäftigen. In Köln gebe es jedenfalls inzwischen ein Gymnasium mit sogenanntem musischem Zweig, und außerdem gebe es in Köln schließlich noch Walter Fornemann, der mich von nun an wieder wöchentlich unterrichten könne.
Ich antwortete, dass ich mir das alles durch den Kopf gehen lassen werde, dabei konnte ich kaum verheimlichen, wie sehr ich mich freute. Ich würde in Köln aufs Gymnasium gehen! Ich würde beinahe jeden Tag zumindest eine gewisse Zeit wieder in dieser mir so vertrauten und nahen Stadt verbringen! In Walter Fornemanns Unterricht würde ich Stücke von Schumann und Brahms spielen, und während der freien Zeit zwischen Schule und Klavierunterricht würde ich mich am Rhein herumtreiben, stundenlang …
Genauso ist es dann wenig später auch gekommen. Ich bezog im noch immer einsam gelegenen Haus meiner Eltern auf dem Land ein kleines Zimmer unter dem Dach und ging während der sich direkt anschließenden Sommerferien wieder zusammen mit meinem Vater auf Reisen. Damals ahnte ich noch nicht, dass es das letzte Mal war, denn damals konnte ich noch nicht wissen, dass meine Sehnsucht nach langen Wanderungen und dem sorglosen Unterwegs-Sein keine einmalige Sache, sondern ein tief sitzender Drang, ja beinahe eine Sucht war, die sich nicht mehr bändigen ließ.
Ich war nun vierzehn Jahre alt und bekam immer wieder zu hören, in so einem Alter beginne die Pubertät . Meine Eltern jedoch hatten keine richtige Ahnung davon, was das im Einzelnen bedeutete, und auch ich wusste nicht, was ich mir darunter vorstellen sollte.
Antonia übrigens verwendet das Wort Pubertät nicht, weil sie es für abstoßend und kalt hält. Stattdessen sagt sie Adoleszenz , was sich im Italienischen wie nostalgisches Latein anhört. Marietta steht also, wie Antonia behauptet, kurz vor dem Eintritt in die Adoleszenz, ich dagegen kann nicht feststellen, dass sie irgendwelche Anzeichen pubertären Verhaltens zeigt.
Von ihrem Schulunterricht her kennt Antonia jedoch angeblich diese Anzeichen genau. Alles beginnt, wie sie behauptet, mit einer häufigeren Abwesenheit des jungen Menschen von zu Hause. Zunächst fällt diese Abwesenheit niemandem so richtig auf, selbst der junge Mensch nimmt sie nicht bewusst wahr. Sie entsteht vielmehr ganz nebenbei, zum Beispiel dadurch, dass er für den Schulweg länger braucht als zuvor. Er macht Umwege, verweilt hier und da, unterhält sich, streift umher. Am Nachmittag bleibt er nicht mehr so lange in der elterlichen Wohnung wie bisher, sondern hat in der Umgebung oder in der Stadt bestimmte Termine . Er schließt sich einer Freundin oder einem Freund an, zu zweit sind sie dann unterwegs, erkunden fremde Gegenden, nehmen Witterung auf, sondieren das Erwachsenen-Leben. Auf schleichende Weise beginnt damit die Entfernung von der Kindheit. Erst sind es nur einige Minuten am Tag, dann werden es Stunden, am Ende sind die jungen Menschen alle paar Nächte unterwegs, um kurz vor Mitternacht völlig überanstrengt wieder zu Hause zu erscheinen.
Für Antonia steht fest, dass auch Marietta schon bald mit solchen Streifzügen und kleinen Expeditionen in unbekannte Gegenden der Stadt beginnt. Die Vorzeichen sind angeblich bereits daran zu erkennen, dass sie jetzt mittags mit einer Schulfreundin von der Schule zurückkommt, mit der sie den Schulweg früher niemals geteilt hat. Allein gehen sie nicht auf Tour! , behauptet Antonia und macht bei solchen Sätzen den Eindruck einer Detektivin, die einem schwierig zu lösenden Fall auf der Spur ist.
Erst richtig angeheizt wurde ihr Spürsinn aber an einem Nachmittag, als Marietta sich zum Tennisspielen verabredet hatte, jedoch nicht, wie vereinbart, zu einer bestimmten frühen Abendstunde wieder erschien. Als die Frist um eine halbe Stunde überzogen war, klingelte Antonia bei mir und bat mich, ihr auf einen Drink Gesellschaft zu leisten. Sie sei nicht nervös, nein,
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