Die Erfindung des Lebens: Roman
seinen Veränderungen und den Gedanken, die sie sich über die kleinsten Details macht. Manchmal kommt es ihm sogar so vor, in diesen Briefen nicht die Stimme seiner Mutter, sondern die einer Schriftstellerin wiederzuerkennen, er kennt diesen Ton sonst nur aus französischen Texten, ja wahrhaftig, der Erzählton seiner Mutter liest sich so, als läse man eine Übersetzung aus dem Französischen.
So elegant und verführerisch diese Briefe auch sind, der junge Mann erliegt ihnen nicht. Vor einiger Zeit wäre das noch unmöglich gewesen, denn vor einiger Zeit hätte ihn der Ton dieser Briefe noch derart getroffen, dass er sich sofort auf den Weg nach Hause gemacht hätte. Es handelt sich nämlich um einen Ton, der ein starkes Heimweh auslösen kann, ja, es ist ein Ton, der ihn lockt und ihm all das, was er so genau und intensiv seit den frühsten Kindertagen kennt, wie eine geschlossene, harmonische Welt präsentiert.
Aus dieser Welt sind nun aber die alten Dunkelheiten verbannt, sie werden nicht einmal mit einer kleinen Bemerkung gestreift, die Welt rund um das Haus auf der Höhe ist jetzt vielmehr ein paradiesischer Garten mit einem Schutzwall aus Hecken und Wäldern, in dem man sich nur noch mit den schönen Dingen des Lebens beschäftigt.
Genau diese Lebenskunst beschreibt die Mutter wie ganz nebenbei in ihren Briefen, sie schreibt davon, wie sie an einer bestimmten Stelle des Gartens Tee trinkt und dazu ein bestimmtes Buch liest, sie erwähnt die Musik, die aus dem Blockhaus des Vaters dringt, sie schreibt von den Spaziergängen, die sie mit ihm zusammen macht und die beide immer wieder an die alten, schönen Orte führt , wo der junge Mann als kleines Kind das Sprechen gelernt hat.
So eindringlich und verlockend das alles auch ist, der junge Mann ist gegen die Versuchung, nach Hause zurückzukehren, gefeit, in Rom hat er nicht das geringste Heimweh, denn in Rom wirken die schönen Bilder von seinem deutschen Zuhause zwar noch immer sehr intensiv nach, sie lösen aber nicht so starke Emotionen aus, dass er verunsichert wäre.
Dass es zu solchen Verunsicherungen nicht kommt, liegt vor allem an seiner Liebe, denn diese Liebe hält seine gesamten Gefühle und Empfindungen derart stark besetzt, dass es für so etwas wie Heimweh keinen Platz mehr gibt. Auch die Liebe zu den Eltern ist gegenüber der Liebe zu seiner Freundin Clara von deutlich schwächerem Gewicht, natürlich liebt er seine Eltern, sie beherrschen nur nicht mehr so ausschließlich wie früher seine Gedanken und Empfindungen.
Hinzu kommt, dass ihn der strenge Unterricht am Conservatorio stark beschäftigt und ihm keine Zeit für Nostalgien lässt, jeden Tag übt er viele Stunden und jede Woche hat er eine Vielzahl von Theorie-Seminaren zu besuchen, ganz zu schweigen von den Treffen mit jenen Kommilitonen, mit denen er auch noch Kammermusik probt. In seinem Jahrgang hat er viele Mitspieler gefunden, er spielt vierhändige Kompositionen oder Kompositionen für zwei Klaviere, oder er tritt mit einigen älteren Studenten, die ein Streichquartett gegründet haben, bei allerhand festlichen Gelegenheiten in den römischen Häusern und Palazzi auf, um etwas Geld zu verdienen.
Das gefeierte Meisterwerk solcher Auftritte ist Schumanns Klavierquintett , dessen erster Satz, in einem hohen, geradezu tollkühnen Tempo gespielt, beim Publikum regelmäßig zu Begeisterungsstürmen führt, der junge Mann hat dieses Stück auf die Programme gesetzt, er hat es für die römischen Zirkel entdeckt, wie er mit der Zeit überhaupt Freude daran findet, die seltsamsten und ungewöhnlichsten Programme zusammenzustellen, mit denen er seine Freunde und Mitspieler, vor allem aber die Musik begeisterten Römer immer wieder verblüfft.
Die Fähigkeit, den Geschmack dieser Kreise zu treffen und ihnen das Gefühl zu vermitteln, etwas Außergewöhnliches, Raffiniertes und Rares zu hören, gehört nach einer Weile zu seinem rasch wachsenden Ruf, der junge Mann gilt nicht nur als ein guter Pianist, sondern auch als eine Art von Programmgestalter, der das Publikum mit abwegigen und ungewohnten Programmen zu verblüffen und in Scharen anzuziehen versteht.
Diese immer stärker werdende und durch Mundpropaganda verbreitete Anziehung hat aber auch damit zu tun, dass er mit seinen Freunden und Kommilitonen nicht an den bekannten Konzertstätten auftritt, sondern sich auf die Suche nach Räumen macht, in denen noch nie Musik aufgeführt worden ist.
Die meisten dieser
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