Die Erfindung des Lebens: Roman
darauf gekommen? Du hast doch in all den Jahrzehnten vorher anscheinend keinen einzigen Liebesroman geschrieben!
Ich sagte, dass ich darauf auch keine mich selber ganz befriedigende Antwort hätte, denn schließlich hätte ich mir überhaupt nicht vorgenommen, einen Liebesroman nach dem andern zu schreiben. Es sei vielmehr einfach geschehen, und zwar mit einer Dringlichkeit, als wäre es für mich geradezu notwendig, diese Romane zu schreiben. Und es gibt keine bestimmten Ereignisse, die das Schreiben solcher Romane ausgelöst haben?, fragte sie. – Ah, jetzt ahne ich, warum Du mich so etwas fragst, sagte ich, Du vermutest vielleicht, ich hätte mich wirklich verliebt oder ich hätte gerade Erlebnisse hinter mir, die dieses Thema berühren. Das ist aber nicht der Fall, nein, das stimmt nicht, Gott sei Dank stimmt es nicht, denn wenn es so wäre, wäre das ja nur peinlich. – Aber was war es dann? – Ich habe eine einzige, vage Vermutung, antwortete ich, und diese Vermutung hat mit meinem Aufbruch nach Rom zu tun. Seit mehreren Jahren habe ich nämlich bereits daran gedacht, mir eine Wohnung in Rom zu nehmen und hier in Rom am Roman meiner Kindheit und Jugend zu schreiben. Das Ganze war wie eine fixe Idee, ich war von dieser Idee besessen, immer wieder dachte ich daran, dass ich nach Rom reisen sollte, um endlich mit diesem Roman zu beginnen. – Und in dieser Zeit hast Du die Liebesromane geschrieben? – Ja, und in all diesen Jahren der Sehnsucht nach Rom habe ich einen Liebesroman nach dem andern geschrieben.
Ich hatte über diese Zusammenhänge bisher nur im Stillen und sehr vorläufig nachgedacht, jetzt aber, als ich offen über sie sprach, erschienen sie mir plötzlich nicht mehr so vage, sondern durchaus überzeugend, ja sogar gut begründet. Mit dem Schreiben der Liebesromane hatte ich mich Rom genähert, mit diesem Schreiben hatte ich die jahrzehntelang unterdrückte Erinnerung an die bisher einzige, große Liebe, die ich erlebt hatte, angelockt und genährt.
Jetzt, wo ich mit Dir darüber rede, finde ich meine Vermutung überzeugend, sagte ich zu Antonia. – Stimmt, antwortete sie, ich finde sie auch überzeugend, ja, ich finde sie zwar etwas seltsam und merkwürdig, aber durchaus überzeugend. Vielleicht finde ich sie aber auch bloß überzeugend, weil ich froh bin, dass Du nicht wirklich verliebt warst. – Ich verliebe mich nicht leicht, sagte ich, ich habe mich nur sehr selten in meinem Leben verliebt. – Und der Sex?, fragte Antonia, wie lief es denn mit dem Sex, wenn Du nur selten verliebt warst? – Ich mag das Wort Sex nicht, antwortete ich, ich finde, das Wort bezeichnet nur etwas Abstraktes, aber kein eigentliches Begehren. – Ah ja, und dieses eigentliche Begehren, wie Du es nennst, gibt es nur in Verbindung mit Liebe? – Aber nein, keineswegs, das Begehren gibt es latent ununterbrochen, es wird bloß nicht laufend geweckt. – Es gibt ein latentes, ununterbrochenes Begehren? – Aber ja. – Und dieses Begehren ist einfach da und richtet sich auf die gesamte Umgebung? – Ja, auf die gesamte Umgebung. Das latente Begehren wählt unablässig aus, wovon es jeweils mehr will: von diesem Wein, von den Artischocken dort drüben, von der Farbe Blau, von einem Dreiklang in cis-Moll oder von Deinem Unterarm, der meinen Unterarm eben gestreift hat. – Mein Unterarm hat Deinen Unterarm eben so gestreift, dass Du diese Berührung als ein Begehren erlebt hast? – Genau so. – Und jetzt ist dieses Begehren bereits wieder vorbei? – Aber nein, es ist nicht vorbei, sondern nur gespeichert, es kann jederzeit neu aufgeladen und intensiviert werden. – Und das hat mit Liebe zu tun? – Nein, mit Liebe hat es noch nichts zu tun, es kann aber damit zu tun bekommen. – Und wie kann es das? – Wenn sich das Begehren an irgendeinem Punkt kristallisiert, wenn es umkippt in Verliebtheit. – Und wie kommt es dazu? – Frag nicht so scheinheilig, liebe Antonia, Verliebtheit entsteht einfach von selbst, sie ist plötzlich da, wie eine Aufladung der Atmosphäre, wie ein Blitz. – Ach ja?, ganz leicht, wie von selbst entsteht die Verliebtheit?, jetzt verstehe ich, Verliebtheit ist in Deinen Augen wohl etwas durch und durch Römisches. – Im übertragenen Sinne ja, Verliebtheit ist eine römische Krankheit, eine Ekstase. – Das klingt interessant, mein lieber Johannes, Du solltest ein Buch darüber schreiben. – Ein Buch? Wie kommst Du denn darauf? – Du solltest ein Buch über die römische Ekstase
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