Die Erfindung des Lebens: Roman
vor der Kirche Santa Maria in Trastevere betritt, lange Zeit auf den Stufen des Brunnens vor der Kirche verweilt und sie am frühen Abend endlich auch betritt.
In der schweren Dunkelheit des mittelalterlichen Baus sind nur noch wenige Menschen unterwegs, ein paar Kerzen brennen, im Chor leuchten die alten Goldmosaike mit Szenen aus dem Leben Mariens. Eine seltsame, lange nicht mehr gespürte Anspannung ist in ihm, als er sich hinkniet und ein Gebet spricht, er bringt das alte Deus, in adjutorium meum intende/ Domine, ad adjuvandum me festina nicht über die Lippen, sondern murmelt wie unter dem Zwang der strahlenden Marienbilder vor seinen Augen den Beginn des Magnificat , den er zum letzten Mal während seiner Schulzeit in der Klosterkirche gebetet hat: Magnificat anima mea Dominum/ Et exultavit spiritus meus in Deo salutari meo …, Meine Seele preist die Größe des Herrn, und mein Geist jubelt über Gott, meinen Retter …
Während er aber diese Zeilen spricht, stürzen die lange verdrängten Erinnerungen nun doch auf ihn ein, es ist wie ein Befall, als wären Schwarmgeister hinter ihm her und setzten ihm zu, jedenfalls sieht er in einem raschen, sich beschleunigenden Reigen lauter Bilder seines früheren Lebens, Bilder seiner Ohnmacht und Schwäche, als wollte ihm jemand mit aller Macht vorführen, woran er sich so lange Zeit nicht zu denken getraute.
Er kann denn auch nicht länger in der dunklen Bank knien, nein, er tritt die Flucht an, bekreuzigt sich und entzündet am Eingang der Kirche noch rasch eine Kerze. Dann tritt er hinaus auf die Weite des großes Platzes, auf dem die Römer allabendlich feiern. Er biegt nach rechts ab, das Restaurant, in dem sein Geburtstag stattfinden wird, ist ganz nahe, als er es beinahe erreicht hat, bleibt er stehen, denn er erkennt, dass ausgerechnet vor diesem Restaurant an diesem Abend eine lange Schlange mit Gästen wartet, die alle keinen Platz mehr bekommen haben.
Als er jedoch an ihnen vorbeischleicht, erkennt man ihn plötzlich, er hört seinen Namen, ecco!, Giovanni!, da begreift er, dass all diese Menschen nur seinetwegen hier stehen und gekommen sind, mit ihm zu feiern. Von drinnen ist jetzt auch Musik zu hören, die breite Tür des Restaurants öffnet sich, und man blickt auf einen mit einem Blumenmeer gefüllten Gartensaal von der Art altrömischer Gartensäle. Es gibt aber keinen langen Tisch, sondern eine Gruppierung von vielen Tischen in einer großen Hufeisenform, über dem zentralen Tisch an der Wand aber erkennt er sein Foto, das Foto eines jungen Mannes in Halbtotale.
Während er den Saal betritt und die Hochrufe hört, sieht er zur Rechten einen Halbkreis von Streichern, die ihm zuliebe den Anfang der Meistersinger intonieren. Er mag dieses Stück sehr, aber er mag nicht, wenn man es schmettert und wenn es dröhnt, deshalb haben sie anscheinend die kleine Besetzung gewählt, so dass es jetzt klingt wie ein munterer, festlicher Reigen, sie spielen es sogar leicht überdreht, mit einigen Hupfern und Schlenkern, als lieferten sie eine übermütige, ausgelassene Version dieses Beginns.
Unübersehbar viele Menschen füllen den Raum, die jetzt auf ihn zuströmen, viele studieren mit ihm, andere kennt er von seinen Konzerten oder von Begegnungen in den Cafés rings um das Conservatorio, er bleibt hilflos stehen und bedankt sich immer wieder für die guten Wünsche, als er seine Freundin, Clara, erkennt, die in einem weißen, kurzen Kleid direkt vor seinem Foto steht und ihn unverwandt anschaut. Er schaut zurück, einen langen Moment betrachten sie sich regungslos, kein Lächeln, nichts, geht durch ihr Gesicht, es ist ein Medusenblick, den sie plötzlich beide zugleich haben und auch an sich spüren, so lange, bis er sieht, wie sich Clara aus dieser kurzen Erstarrung löst und mit vor Rührung fest aufeinandergepressten Lippen auf ihn zukommt.
Sie umarmen sich, sie küssen sich wie ein Brautpaar, und als er seine Augen wieder öffnet, sieht er im Hintergrund sein unscharfes Foto, als wäre Clara genau diesem Bild entsprungen und hätte sich nun mit ihm vermählt wie eine Roma, wie die schönste Erscheinung der Ewigen Stadt.
V
Die Rückkehr
39
VOR EINER Woche habe ich am Schwarzen Brett des Conservatorio einen Aushang anbringen lassen, auf dem nach einer Klavierlehrerin oder einem Klavierlehrer für Marietta gesucht wird. Seither haben sich fünf Bewerber gemeldet, mit denen ich einen Nachmittags-Termin im Sekretariat des
Weitere Kostenlose Bücher