Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Erfindung des Lebens: Roman

Die Erfindung des Lebens: Roman

Titel: Die Erfindung des Lebens: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
Vom Netzwerk:
mir, über diese Frage nachzudenken, und legte einfach los, anfangs blieb ich zwei-, dreimal hängen und begann dann jedes Mal wieder von vorn, ich spürte, dass es nicht das richtige Stück für so einen Wiederbeginn war, deshalb brach ich ab, obwohl ich durchaus etwas Sicherheit gewonnen hatte.
     
    Und wie stand es um meine Zugnummer, um Schumanns Fantasie in C-Dur ? Ich fürchtete einen Moment, schlimm zu versagen, doch dann beruhigte mich der Gedanke, dass mich niemand beobachten konnte. Von der Straße aus würde man nichts anderes hören als einen übenden, jungen Studenten, er spielte noch unbeholfen und machte viele Fehler, immerhin hatte sein Spiel aber etwas Draufgängerisches, Wildes.
    Ich wollte loslegen, aber dann störte mich die Schwüle im Raum. Ich zog das Hemd ganz aus und setzte mich mit nacktem Oberkörper auf den Hocker, nun los! , ich setzte an, und wahrhaftig, die raschen, rollenden Bewegungen der linken Hand verliefen vollkommen mühelos, als hätte ich sie in all den Jahrzehnten weiter ununterbrochen geübt. Sicher, ich spielte das Stück viel langsamer als früher, aber ich hatte keine technischen Probleme, nein, das Stück ließ sich mit einer Genauigkeit aus der Erinnerung abrufen, als hätten sich mir seine Bewegungsabläufe eingebrannt.
    Ich spielte es aber nicht fortlaufend, sondern setzte an den verschiedensten Stellen ein, ich checkte es durch und unterhielt mich mit ihm, ich wechselte in eine andere Tonart, improvisierte mit dem Thema des letzten Satzes, trudelte über die Tasten, spielte zwei, drei Minuten etwas von Phil Glass und kam dann wieder auf die Fantasie zurück. Zuhörer hätten glauben können, dass das Instrument gerade einem Klavierstimmer zum Opfer fiel, so sprunghaft ging ich mit ihm um.
     
    Ich wollte nichts Fertiges spielen, ich wollte dem Instrument nicht gehorchen, nein, ich wollte weder ihm noch mir eine Freude machen, nein, verdammt, ich wollte niemanden und auch mich nicht mit meinem Klavierspiel beeindrucken, sondern ich wollte lediglich diesen harten, ungelenken Steinway testen und ihn domestizieren, um ihm etwas von seiner grässlichen, aufreizenden Arroganz zu nehmen.
    Ich spürte nämlich, wie mich das Instrument reizte, schon früher hatte man von diesen Steinway-Flügeln so gesprochen, als wären sie die besten Instrumente überhaupt und geradezu unschlagbar, ich hatte das nie geglaubt und glaubte es noch immer nicht, nein, ich würde diesem Prachtexemplar vor meinen Augen jetzt zeigen, wie ich mit ihm zurandekam, ich würde es hetzen und jagen, bis es vor lauter Atemlosigkeit nur noch klirrenden Schrott produzierte.
     
    Und womit würde ich das tun? Mit welchem Stück? Ich brauchte nicht lange zu überlegen, ich wusste es sofort. Am Ende meiner früheren Auftritte hatte ich manchmal ein richtiges Rasse-Stück gespielt, eine Orgie aus purem Rhythmus und Temperament, bei dem das Klavier wie ein Schlagzeug behandelt wird. Es dauert kaum vier Minuten, ja, ich meine den dritten Satz einer Prokofieff-Sonate, genauer gesagt, meine ich den dritten Satz der siebten Klaviersonate von Sergej Prokofieff.
    Das Stück ist ein klassischer Rausschmeißer und ein echter Orkan, das Publikum gerät dabei immer in Rage. Wenn ich es früher im Konzert spielte, hörte ich das Aufstampfen und Mitmachen der Zuhörer, manchmal setzte sogar während der Darbietung bereits rhythmisches Klatschen ein, man kann sich dieser Hexerei als Zuhörer einfach nicht entziehen.
     
    Ich rückte den Klavierhocker ein wenig vom Instrument fort und schraubte ihn höher, ich wippte einen Moment mit dem Oberkörper hin und her, dann schlug ich zu und sprang das Instrument an. Ha!, es war eindeutig zu langsam, zu fahl, zu trocken, ich musste an Lautstärke zulegen, nein, das reichte noch immer nicht, ich musste beschleunigen, jetzt, noch etwas mehr, ich musste es antreiben, in der Höhe begann es wahrhaftig zu klirren, während die linke Hand einen satten Rhythmus hinbekam, das passte nicht gut zusammen, das schepperte in dem kleinen Raum, aber ich hatte das Ding jetzt in meiner Gewalt, es machte mit, ja, es schwankte sogar etwas, jetzt bog ich auf die Zielgerade ein, und dann kam der plötzliche, rabiate Schluss, Ende, aus, keine Fortsetzung möglich.
    Der Schweiß lief mir über den ganzen Oberkörper, von unten auf der Straße kam Beifall. Sollte ich ans Fenster gehen und mich gönnerhaft hinausbeugen? Sollte ich mich bedanken und winken wie ein Musterschüler? Nein, das kam nicht in Frage,

Weitere Kostenlose Bücher