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Die Erfindung des Lebens: Roman

Die Erfindung des Lebens: Roman

Titel: Die Erfindung des Lebens: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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Conservatorio vereinbart habe.
    Natürlich möchte ich nicht allein entscheiden, wer Marietta in Zukunft unterrichtet, sie selbst hat ein Wort mitzureden, die endgültige Entscheidung aber liegt bei Antonia, die mir inzwischen sagte, dass sie nicht nur neugierig auf die Bewerber, sondern auch auf das Conservatorio sei. Wie lange bist Du nicht mehr in diesem Gebäude gewesen? , fragte sie mich. Ich rechnete kurz nach und antwortete: Mehr als drei Jahrzehnte.
     
    Seit unserem Abend in der Via Bergamo haben wir uns wieder täglich gesehen, ja, wir sind inzwischen wirklich gute Freunde geworden. Ich spüre deutlich, dass Antonia im Umgang mit mir gelassener und offener geworden ist, und auch ich bin ihr gegenüber viel entspannter als früher. Die Bewohner in der Umgebung sehen uns oft zu zweit unterwegs und machen manchmal schon Bemerkungen darüber, auch unten, in der Buchhandlung, sehen sie uns als zusammengehörend an und geben mir bereits die Bücher mit, die Antonia bestellt hat.
    Wahrscheinlich denken alle, wir wären längst ein Paar, das ist aber nicht so, wir sind kein Paar, und wir haben seit dem Abend, als wir kurz darüber nachdachten, gemeinsam eine Nacht zu verbringen, auch keine Anstalten mehr gemacht, eines zu werden. In unserem Alter küsst man sich nicht mehr laufend auf Straßen und Plätzen oder streunt durchs Grüne auf der Suche nach abgelegenen, intimen Orten, vielleicht ist das im Fall von Antonia und mir aber auch keine Frage des Alters, sondern hat mit den vielen anderen Erlebnissen und Geschichten zu tun, die unsere Freundschaft berühren und die wir alle im Kopf haben. Letztlich aber vermute ich, dass auch diese Geschichten nicht mehr zählen würden, wenn es plötzlich zu dem einen, schönen Moment käme, der alles über den Haufen würfe. Diesen einen, schönen Moment haben wir jedoch noch nicht erlebt, wir haben uns darauf zu bewegt, ereignet hat er sich aber noch nicht.
    In einem solchen Moment ist alles klar und selbstverständlich, und man tut das, was man tun möchte, ohne langes Hin und Her. Ein paar Mal habe ich in meinem Leben solche starken Momente erlebt, sie haben aber nicht nur mit so großen Erfahrungen wie Freundschaft oder Liebe zu tun, nein, es sind einfach Momente, in denen sich etwas, an das man mehr oder weniger bewusst bereits längere Zeit gedacht hat, blitzartig entscheidet …
     
    Nun gut, Antonia und ich – wir haben also am gestrigen späten Mittag ein Taxi bestellt und sind zusammen mit Marietta zur Piazza del Popolo gefahren, in deren Nähe sich das Conservatorio befindet. Wir hatten noch etwas Zeit, deshalb habe ich die beiden zu einem Getränk in eines der beiden bekannten Cafés an der Piazza eingeladen, Marietta sagte, sie stelle es sich nicht leicht vor, in kurzer Zeit zu entscheiden, wen man von den fünf Bewerbern bevorzuge, und ich antwortete, dass sie den Bewerbern Fragen stellen solle.
    Fragen? Was soll ich sie denn fragen? – Frag sie nach ihren Lieblingskomponisten oder frag sie nach einem Stück, das sie hassen. – Darf ich sie so etwas wirklich fragen? – Aber ja, warum denn nicht? Frag sie nach ihrer Lieblingstonart und nach dem besten Pianisten, den es gegenwärtig auf der Welt gibt, und frag sie nach dem schönsten Buch über Musik. – Ich könnte sie auch fragen, woher sie kommen und was sie bisher so getan haben. – Kannst Du auch, aber das sind langweilige Fragen, Du solltest sie nicht das Übliche fragen, sondern Fragen stellen, bei deren Beantwortung sie nachdenken und Gefühle zeigen müssen. – Ach, am liebsten, Giovanni, wäre es mir, wenn ich weiter bei Dir Unterricht hätte. – Danke, Marietta, das freut mich, aber ich habe Dir schon erklärt, dass Du jetzt eine richtige Lehrerin oder einen richtigen Lehrer brauchst. Du brauchst eine Technik -Löwin oder einen Technik-Champion, die Dir lauter Kniffe und technische Besonderheiten beibringen, dafür bin ich nicht der Richtige, glaube mir.
     
    Als es an der Zeit war, gingen wir die wenigen Meter zu Fuß hinüber zum Conservatorio. Das Gebäude ist sehr groß, man kann es in einer schmalen Straße an seiner Vorderseite betreten und nach seiner Durchquerung auf der Rückseite in einer Parallelstraße wieder verlassen. Ich ging voraus und war erstaunt, dass sich beinahe nichts verändert hatte. Es gab noch immer die kleine Portier-Luke, an der man unbefragt vorbeischlüpfen konnte, und es gab die langen Fluchten mit den Übeund Unterrichtsräumen, aus denen die Musik weit nach

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