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Die Erfindung des Lebens: Roman

Die Erfindung des Lebens: Roman

Titel: Die Erfindung des Lebens: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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draußen, in die gesamte Umgebung, schallte.
    Na, fragte Antonia, erkennst Du etwas wieder? – Es ist beinahe alles wie früher, antwortete ich, dieselbe stickige Luft, dieselben Kleiderhaken an den Wänden, die mich an die Kleiderhaken in meiner Volksschule erinnern, derselbe Innenhof mit den verdursteten Palmen, und die vielen Ankündigungen von Konzerten an jedem nur denkbaren Pfeiler. Plötzlich bemerkte ich, dass Marietta nach meiner Hand griff, sie ging langsam und zögernd neben mir her, die Größe und Monotonie des Gebäudes schien sie einzuschüchtern. Um sie zu beruhigen, nahm ich auch ihre Hand, während wir zu dem etwas versteckt liegenden Sekretariat einbogen, wo man uns sofort in einen Nebenraum führte, in dem die Bewerber erscheinen würden.
     
    Wir warteten ein paar Minuten, dann tauchten drei der Bewerber auf, sie machten auf mich alle einen sehr jugendlichen, frischen Eindruck und beantworteten Mariettas Fragen mit erstaunlicher Schnelligkeit. Wir sagten ihnen, dass sie noch einen Moment auf dem Flur warten sollten, und nahmen uns noch zwei weitere Bewerber vor.
    Die gesamte Gruppe setzte sich aus drei Frauen und zwei Männern zusammen, am meisten gefiel mir die jüngste Bewerberin, die nicht lange wartete, bis sie von uns etwas gefragt wurde, sondern sich gleich nach den Stücken erkundigte, die Marietta zuletzt geübt hatte. Marietta nannte einige, eine Partita von Bach, etwas von Pergolesi, Walzer von Brahms, etwas von Duke Ellington, daneben Samba und Tango.
    Fantastisch, sagte die junge Frau zu Marietta, Du hast anscheinend einen sehr guten Lehrer gehabt. Aber warum unterrichtet er Dich nicht weiter? Ich erklärte ihr kurz, dass ich selbst Mariettas letzter Lehrer gewesen sei, die junge Bewerberin geriet für einen Augenblick durcheinander, lachte dann aber so schallend und herzlich, dass wir auch alle anfingen zu lachen.
    Das aber war genau einer jener Momente, von denen ich eben erzählte, es war ein Moment der Befreiung und der Erleichterung, alles erschien plötzlich ganz einfach und selbstverständlich, so dass wir ohne weiteres Nachdenken wussten, dass wir genau diese Bewerberin nehmen würden und keine andere.
    Wir unterhielten uns noch eine Weile, und Antonia konnte sich nicht verkneifen, ihr zu erzählen, dass ich vor Jahrzehnten selbst einmal ein Schüler dieses Conservatorio gewesen sei. Haben Sie auch jeden Nachmittag hier drinnen geübt? , fragte die junge Frau, und ich bestätigte, dass auch ich beinahe täglich in diesem Gebäude geübt hatte. Noch während ich das aber sagte, bekam ich Lust, noch einmal einen dieser früheren Überäume zu sehen, ich sagte das, und die junge Frau reagierte auch gleich, indem sie uns einen Stock höher zu genau dem Raum führte, in dem sie wohl vor wenigen Minuten noch selbst geübt hatte.
     
    Das kleine Fenster stand offen, der Flügel war schräg davorgerückt, daneben gab es in dem winzigen Zimmer noch einen Tisch und einen Stuhl, ja, es sah alles genauso aus wie früher. Ich starrte vielleicht einen Moment zu lange auf das schwarze, glänzende Geschöpf vor mir, es war ein Steinway, ja, dann ging ich darauf zu und fuhr mit den Fingern der rechten Hand kurz über die Tastatur, als die junge Frau sagte: Ich sehe schon, wir sollten Sie jetzt allein lassen.
    Ich wehrte ab und sagte, dass ich gar nicht vorhätte, etwas zu spielen, es half aber alles nichts, alle, die sich mit mir im Raum befanden, schienen plötzlich der Meinung zu sein, dass man mir unbedingt Zeit lassen müsse, unbeobachtet auf genau diesem Flügel zu spielen. Eine Stunde? Reicht Dir eine Stunde? , fragte Antonia. Ich wehrte noch einmal ab, doch es war nichts zu machen, sie zogen sich alle zurück und ließen mich mit dem Instrument allein, ich hatte nun eine Stunde Zeit, danach würde ich mich wieder mit Antonia und Marietta treffen.
     
    Ich setzte mich auf den kleinen Stuhl und wartete, bis sie nicht mehr zu hören waren, dann legte ich meine Jacke ab, krempelte die Ärmel meines Hemdes zurück und wechselte auf den Klavierhocker. Ich legte beide Hände auf die Tastatur, als wollte ich ersten Kontakt mit dem Instrument aufnehmen und es beruhigen, dann begann ich zu spielen.
    Weil Marietta gerade eine Partita von Bach geübt hatte, hatte ich das Stück genau im Kopf, ich hätte es Note für Note hinschreiben können, selber gespielt hatte ich es aber lange nicht mehr. Wie viel Zeit war überhaupt vergangen, seit ich dieses Stück das letzte Mal gespielt hatte? Ich verbot

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