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Die Erfindung des Lebens: Roman

Die Erfindung des Lebens: Roman

Titel: Die Erfindung des Lebens: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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jeden Lebensabschnitt anders, aber doch immer von ihr geprägt, bis zum heutigen Tag.

11
     
    DA ICH einen Tag später als die anderen Schüler in die Schule kam, wurde ich in die letzte Reihe des Klassenzimmers gesetzt. Dort saß niemand außer mir, ich hockte hinter einem kleinen Tisch und neben vielen leeren Stühlen. Mir war kalt, deshalb behielt ich während des Unterrichts den Anorak an.
    Die anderen Schüler fanden das merkwürdig, sie schauten sich oft nach mir um, und eines der Kinder sagte immer wieder, dass ich noch einen Anorak trüge und ihn doch lieber ausziehen solle. Der junge Lehrer, der ganz vorne in der Nähe der Tafel stand, meinte jedoch, ich brauche den Anorak nicht auszuziehen, man dürfe mich nicht zu irgendetwas zwingen, irgendwann werde ich ihn schon ausziehen und dann sei es gut.
     
    An meinem ersten eigentlichen Schultag erklärte er den anderen Schülern auch, dass ich stumm sei. Ich sei stumm, aber keineswegs taub, sagte der junge Lehrer, und weiter, dass ich nicht mit den anderen Schülern sprechen, wohl aber verstehen könne, was man mir sage. Das stimmt doch? , fragte er mich dann wie zur Probe, und man schaute sich wieder nach mir um, während ich kurz nickte, um zu zeigen, dass ich den Lehrer wie angekündigt verstanden hatte. Danach aber sagte er noch, dass ich wegen meiner Stummheit keinen Kindergarten besucht habe und mich daher erst noch an einen Ort wie die Schule, wo es viele andere Kinder gebe, gewöhnen müsse. Auf keinen Fall solle man mir also zu Leibe rücken oder mich sonst irgendwie ärgern, ich sei stumm, und ein stummes, armes Kind ärgere man nicht. Am besten sei es, man lasse mich ganz in Ruhe und kümmere sich nicht weiter um mich, ich sei jedenfalls keineswegs bösartig oder gefährlich, sondern lebe nur in einer anderen, eigenen Welt.
    Während der folgenden Tage hielten die anderen Kinder sich an diese Worte des Lehrers, die meisten schlossen rasch Freundschaften und gründeten kleine Runden, die in den Pausen dann zusammen waren und spielten. Kaum hatten sie das Klassenzimmer verlassen, verteilten sie auch schon die Aufgaben und Rollen und riefen sich zu, wer beim Fußballspielen ins Tor gehen und wer im Sturm spielen solle. Schon wenn sie sich am frühen Morgen vor dem Unterricht trafen, begannen sie mit dieser Rollenverteilung, im Grunde waren sie den ganzen Vormittag damit beschäftigt, deshalb kamen sie auch gar nicht auf den Gedanken, mir zu Leibe zu rücken, denn ich gehörte als stummes, armes Kind nicht in ihre Spielrunden und wurde deshalb auch nicht weiter beachtet.
     
    Am frühen Morgen stellte ich mich daher auf dem Schulhof in die letzte Reihe und ging hinter den anderen, aufgeregt redenden Schülern in das Klassenzimmer, wo ich dann bis zur ersten Pause wiederum in der letzten Reihe aushalten musste. Da mich weder der Lehrer noch die anderen Schüler ansprachen, hatte ich den Eindruck, dass ich dort bloß meine Zeit absitze, es war wieder das alte, mir nur zu vertraute Gefühl, als wäre ich überhaupt nicht vorhanden und als könnte ich mich genauso gut in Luft auflösen, ohne dass jemand etwas bemerkte.
    Statt den Anorak abzulegen, ging ich mit der Zeit dazu über, mich vom Unterricht zu verabschieden, indem ich die Kapuze des Anoraks über den Kopf zog und so, mit hochgezogener Kapuze, in der letzten Reihe ausharrte. Manchmal behauptete eines der anderen Kinder, ich mache ihm damit Angst, ich solle die Kapuze und den Anorak doch endlich ausziehen, noch aber drang es damit bei dem jungen Lehrer nicht durch, denn der junge Lehrer behauptete weiter, irgendwann werde ich das tun, man dürfe und wolle mich aber keineswegs dazu zwingen.
     
    Was nun den Unterricht betraf, so hörte ich den ganzen Vormittag über aufmerksam zu. Ich wollte mir Mühe geben, ganz unbedingt, und um das zu beweisen, machte ich bei allem mit, was der junge Lehrer von uns verlangte. Ich legte den Block und die Stifte vor mich hin auf den Tisch, ich begann zu zeichnen oder zu malen, und ich strengte mich an, den ersten Buchstaben, der uns beigebracht wurde, in immer derselben Größe zwanzig oder dreißig Mal nebeneinander zu schreiben.
    A – so hieß dieser Buchstabe, die anderen Kinder riefen ihn laut immer wieder, A – A – A , sie hatten eine richtige Freude daran zu zeigen, dass sie einen ersten Buchstaben kannten, ihn laut und deutlich aussprechen und ihn schließlich sogar schreiben konnten. Vorn auf der großen Tafel prangte er: A! – am liebsten hätte auch

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