Die Erfindung des Lebens: Roman
ich ihn einmal laut aus einem Fenster geschrien, A! , das ist der erste Buchstabe des Alphabets, und ich beherrsche ihn jetzt! Jedes der Kinder durfte das A sprechen, von einem zum andern lief es durch das ganze Klassenzimmer, bis weit nach hinten, zu mir, in die letzte Reihe. Dann schauten sich wieder alle nach mir um und starrten mich an, und eines der Kinder sagte, dass ich kein A sprechen könne, weil ich blöd sei, ich sei eben blöd, das habe seine Mutter gesagt, und weil ich blöd sei, könne ich kein A sprechen und trage außerdem noch die blöde Kapuze.
Nach solchen Beleidigungen lachten die anderen Kinder, als habe jemand einen guten Witz gemacht, manchmal bogen sie sich sogar regelrecht vor Lachen und kamen, obwohl der junge Lehrer immer wieder etwas dazwischenrief, nicht zur Ruhe. Noch immer nahm er mich in Schutz, tadelte die anderen Kinder und verbot ihnen, einen solchen Unsinn über mich zu verbreiten. Ich sei nicht blöd, nur stumm, mit Blödheit habe Stummheit nichts zu tun. Doch ich spürte, dass er es leid wurde, mich in Schutz zu nehmen, er fand es lästig und anstrengend, und es wäre ihm sicher am liebsten gewesen, wenn ich wieder aus der Schule verschwunden wäre.
Das alles war aber noch nicht das Schlimmste. Das Schlimmste war, dass ich mich seit der ersten Minute, in der ich im Klassenzimmer Platz genommen hatte, nach Hause sehnte. Ich sehnte mich nach dem Geruch im Treppenhaus des großen Hauses am ovalen Platz, ich sehnte mich danach, die Wohnung endlich zu betreten und von der Mutter umarmt zu werden, und ich sehnte mich danach, mich an das Klavier setzen und endlich, ohne dass mir irgendjemand dreinredete, spielen zu dürfen. Nach dem Klavierspiel hätte ich mich auf das Fensterbrett gesetzt und den Vögeln bei ihren Runden hoch über den Pappeln des Platzes zugeschaut, und dann hätte ich mit Mutter Tee in der Küche getrunken, und wir hätten Musik aus dem Radio gehört. Später wären wir einkaufen gegangen, und auf dem Rückweg von den Einkäufen hätte ich für Mutter eine kleine Tasche mit Gemüse und Obst tragen dürfen.
Solch schöne Tage aber waren jetzt, seit Beginn der Schulzeit, vorbei. Kam ich am Mittag nach Hause, setzte ich mich nach dem Essen an meine Hausarbeiten. Die Hausarbeiten fielen mir schwer, nichts war langweiliger, als immer wieder das blöde A zu malen oder gar ein Haus oder eine Wiese zu zeichnen. Die Hausarbeiten kosteten viel Zeit, und erst wenn ich mit ihnen fertig war, durfte ich tun, was ich wollte, und endlich Klavier spielen. Immer häufiger ging Vater auch am Abend allein in die Wirtschaft, während Mutter ihre Einkäufe bereits am Morgen, wenn ich in der Schule war, erledigt hatte. Mein Leben war in Unordnung geraten, und daran war die Schule schuld.
Das einzig Gute war der Schulweg, den ich allein zurücklegen durfte, so dass ich zum ersten Mal in meinem Leben die Gelegenheit hatte, durch die Straßen des Viertels zu schlendern. Hier und da machte ich auch immer häufiger halt, etwa bei dem Zeitschriftenhändler, der mir die Zeitschriften, die ich früher während der Spaziergänge mit Vater angesehen und gekauft hatte, ohne jede Aufforderung hinlegte, ich suchte mir dann eine der Zeitschriften aus, und Vater bezahlte sie später. Komm doch rein, Junge! Setz Dich! , sagte der freundliche Zeitschriftenhändler zu mir, und manchmal ging ich dann wirklich hinein in den kleinen Kiosk, um auf einem winzigen Schemel Platz zu nehmen und in Ruhe in den Kinderzeitschriften zu blättern.
Eine andere Station, die ich regelmäßig aufsuchte, war die Nische mit der schönen Maria in der kleinen Kirche. Dort zündete ich eine Kerze an, kniete mich vor das Altarbild und erzählte der schönen Maria und meinen gestorbenen Brüdern, was mir durch den Kopf ging. Dass die schöne Maria und meine Brüder mich den ganzen Tag über begleiteten, das spürte ich, nicht genau aber war herauszubekommen, ob sie auch meine Gedanken kannten. War das denn möglich, dass sie vom Himmel aus meine Gedanken lasen und alles mitbekamen, was ich überlegte?
Da ich in dieser Hinsicht nicht sicher war, fasste ich meine Überlegungen in der dämmrigen Nische in Kurzform zusammen. So kam zumindest für die Dauer meiner Gebete etwas Ordnung in meine Gedanken, auch wenn diese Ordnung, kaum dass ich die kleine Kirche verlassen hatte, sofort wieder durcheinandergeriet. Das jedoch konnte ich außer Acht lassen, denn ich dachte wahrhaftig, dass es die Aufgabe der schönen Maria
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