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Die Erfindung des Lebens: Roman

Die Erfindung des Lebens: Roman

Titel: Die Erfindung des Lebens: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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immer mehr ins Schwitzen geraten war, das Unterhemd war nun in allen Einzelheiten zu erkennen. Etwas oberhalb der Lippen und auf seiner Stirn befanden sich kleine Schweißperlen, und wenn man ganz genau hinschaute, sah man, dass seine Unterlippe leicht zitterte. Es musste ihn große Anstrengungen gekostet haben, mir von der Vergangenheit zu erzählen, das sah ich genau. Ganz genau und bis ins Letzte hatte ich auch verstanden, was er gesagt hatte: Ich hatte einmal vier Brüder gehabt, diese vier Brüder waren gestorben, sie befanden sich jetzt im Himmel, und sie würden mich von nun an auf all meinen Wegen begleiten, damit aus mir etwas werden würde.
     
    Ich stützte mich vom Boden ab und stand langsam auf. Dann ging ich auf Vater zu und legte ihm beide Arme um den Hals. Ich drückte seinen breiten, schweren Kopf fest an meine Brust, und dann gab ich ihm einen Kuss auf die Stirn, so heftig und fest, wie Vater sonst meine Mutter auf die Stirn küsste. Ich wollte ihm zeigen, dass ich nun bereit war für die Schule. Ich würde ab jetzt geradewegs hineingehen in das große Gebäude, ich würde mich nicht mehr nach anderen Menschen umschauen, auch nicht mehr nach meiner Mutter, und ich würde versuchen, die Schule zu mögen.
     
    Plötzlich zu erfahren, dass man einmal vier Brüder gehabt hat, die alle nicht mehr am Leben sind – eine so ungeheuerliche Nachricht würde jeden Menschen erschüttern und ein Leben lang begleiten. In jedem Menschen würde sie aber auch jeweils andere Wirkungen und Spuren hinterlassen, je nachdem, wann, wo und unter welchen Umständen ihn eine solche Nachricht ereilte. Ich selbst habe erfahren, dass sie mich bis heute nicht losgelassen hat, sie steckt in meinem Körper als eine Schrecken erregende, Angst machende, überdimensionale Erzählung, die mich unablässig verfolgt.
    Damals aber, als ich noch ein kleiner Junge war, nahm ich diese Nachricht nicht nur als einen gewaltigen Schrecken wahr, sondern auch noch auf ganz andere, kindliche Art. Ich fühlte mich nämlich nicht mehr allein, ja, ich empfand mich jetzt als den Fünften und Letzten in der Reihe meiner Brüder. Da ich keinen Augenblick daran zweifelte, dass meine Brüder im Himmel seien, konnte ich mich sogar mit ihnen unterhalten. Ich konnte zu ihnen beten, ich konnte ihnen von meinen Gefühlen erzählen, ich konnte sie an meinem Leben teilnehmen lassen.
    Das aber war für mich etwas ganz Neues. Ein Großteil des Unglücks, das ich bisher empfunden hatte, hatte darin bestanden, dass ich allein war, ohne »Weggefährten«, ohne eine einzige Person meines Alters, mit der ich hätte spielen und sprechen können. Das hatte nun aber ein Ende. Tatsächlich war ich nicht allein, sondern befand mich in der Gemeinschaft mit meinen Brüdern. Ich konnte sie zwar nicht sehen, doch sie waren vorhanden, wenn auch nur in meinen Gedanken und Gebeten.
     
    Die Toten waren also für mich nicht »tot« und verschwunden, nein, sie wurden zu meinen Wegbegleitern. Die unerwartete Nachricht von ihrer Existenz ließ mich nicht nur erschauern, sondern auch stärker werden: Ich war nicht mehr Teil einer kleinen Familie aus Vater, Mutter und Kind, sondern Mitglied einer großen, mächtigen Sippschaft. Wir sieben gehörten zusammen, wir würden der Welt noch beweisen, was in uns steckte.
     
    Das alles empfand und spürte ich, und ich glaube heute, dass ich von dem Moment an, als ich vom Vorleben meiner vier Brüder erfuhr, fest daran glaubte, bald sprechen zu können. Den ersten Aufschwung in meinem Leben hatte mir das Klavierspiel gebracht, mit seiner Hilfe allein aber hätte ich wahrscheinlich niemals sprechen gelernt, sondern mich eher noch tiefer im Schweigen vergraben. Die Nachricht vom Tod meiner Brüder aber brachte mit sich, dass ich von nun an eine gewisse Verpflichtung empfand: Ich war auf der Erde, um sie zu vertreten, ich war derjenige, der nicht nur in eigenem Namen, sondern im Namen von uns allen fünfen leben und handeln musste. Um das aber hinzubekommen, musste ich sprechen und noch viel mehr können: Lesen und Schreiben und all das Übrige, was man in der Schule lernte.
    Daher war es keine Frage mehr, dass ich in die Schule gehen und mich anstrengen würde, die plötzliche Nachricht hatte diesen Umschwung meiner Ansichten bewirkt. Meine Haltung zu dieser Nachricht hat sich dann aber in meinem weiteren Leben immer wieder auf radikale Weise verändert, im Grunde war es diese Nachricht, an der ich meine ganze Biographie dann ausgerichtet habe,

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