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Die Erfindung des Lebens: Roman

Die Erfindung des Lebens: Roman

Titel: Die Erfindung des Lebens: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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erkannte gleichzeitig, wie entsetzt er über Vaters Hinweis war, denn er schüttelte immer wieder ungläubig den Kopf und sagte laut Nä , immer von Neuem: Nä… , es hörte sich nicht nur so an, als glaube er nicht, was er da gesagt bekam, sondern als dürfe so etwas überhaupt nicht sein. Nä, ist doch nicht möglich , sagte der Jockey, nä, das kann doch nicht wahr sein!
    Mein Vater, der solche Reaktionen von Fremden gut kannte, blieb ganz still, während ich bei jedem Nä und jeder weiteren Wendung nickte, bis er begriff, der Vater hatte die Wahrheit gesagt. Dass er aber endlich verstanden hatte, bewies er durch seine Einladung, eine oder zwei Runden mit mir zu reiten. Ich nickte sofort, worauf der Jockey keinen Moment zögerte, sondern mit einem na dann mal los! auf mich zuging und mich hoch hinauf in den Sattel hob. Für ein paar Sekunden saß ich allein auf dem Tier, dann aber schwang sich der Jockey ebenfalls hoch und setzte sich hinter mich, und es ging im Trab auf die Rennbahn und nach einem kurzen Befehl in leichtem Galopp durch die Welt.
    Noch nie war ich so schnell unterwegs gewesen, noch nie war ich derart geflogen! Ich beugte mich tief nach vorn und zog die Schultern hoch. Das Tier schlug anfangs in einem ganz regelmäßigen Rhythmus mit seinen Hufen den Boden, schien sich mit der Zeit aber von der Erde zu lösen. Selbst in den Kurven verlor es nicht an Geschwindigkeit, und auf der Zielbahn nahm es Fahrt auf und war schließlich so schnell, dass man glaubte, es streckte sich erst jetzt so recht und hechtete dem Ziel wie ein kleiner, in immer weiteren Sprüngen davonfliegender Sprungball entgegen. Das alles aber geschah unglaublich leicht, und die Bewegungen des Tieres waren sanft, so dass ich das Gefühl hatte, alle Sorgen und Nöte müssten Teil eines ganz anderen Lebens sein.
     
    So hatte ich noch einen weiteren guten Freund gefunden, und ich besuchte ihn von nun an in Vaters Begleitung einmal in der Woche, um hoch oben auf dem Sattel einige Runden zu drehen und pfeilschnell auf und davon zu galoppieren.

12
     
    NACH EINIGEN Wochen Schule saß ich noch immer in der letzten Reihe des Klassenzimmers in der Gemeinschaft von Freunden, von denen meine Mitschüler nichts ahnten. Den alten Anorak zog ich nun aus und bemühte mich, dem Unterricht weiter zu folgen, ohne ganz verbergen zu können, dass er mir keinen Spaß machte. Das blöde Gitter-A , das dämliche Brezel-B und das magere C mit dem offenen Maul! Am liebsten hätte ich mich aus dem Staub gemacht und die anderen Schüler ihrem Eifer überlassen, schließlich hatte ich doch jetzt etwas zu tun und zwar etwas, für das ich gut und gern den ganzen Tag gebraucht hätte. Das Klavierspiel nahm an jedem Tag mehrere Stunden in Anspruch, und für die Begegnungen mit all meinen Freunden benötigte ich auch einige Zeit.
    Hinzu aber kam noch, dass die anderen Schüler mich nicht mehr in Ruhe ließen, sondern immer mehr dazu übergingen, mich mit kleinen, gezielten Aktionen zu quälen. Irgendeiner schnitt mir heimlich die Kapuze des Anoraks ab, ein anderer stieß mir beim Verlassen des Klassenzimmers immer wieder fest in den Rücken, und kleinere Gruppen schossen in den Pausen mit Bällen auf mich oder rempelten mich während ihrer Nachlaufspiele so fest an, dass ich oft stürzte.
    Zu diesen Attacken kam es auch deshalb, weil der junge Lehrer mich nicht mehr in Schutz nahm und zunehmend schroffer und boshafter wurde. Nur weil Du stumm bist, können wir Dir nicht alles durchgehen lassen! war noch die harmloseste Vorhaltung, die ich zu hören bekam, wenn er mein Dasitzen einfach leid war. Auf die Mitschüler färbten diese Angriffe ab, sie ließen bald ihre Hemmungen fallen. Ich war nicht mehr nur blöd , sondern eine blöde Sau , ja ich war ein kompletter Idiot, der in die Klapsmühle gehörte. Die Version des Lehrers hörte sich nicht viel anders an: Du bist ein Fall für die Sonderschule! rief er manchmal, und dasselbe wiederholten die Mitschüler in gesteigerter Form in der Pause: Vollidiot! Sonderschüler! Hau endlich ab!
    Schließlich begann jeder Schultag am frühen Morgen damit, dass ich auf dem Schulhof getreten, herumgestoßen und laut verhöhnt wurde, ohne dass ein einziger Mensch etwas dagegen unternommen hätte. Die Schule wurde für mich immer mehr zu einer Anstalt, in der ich dafür bestraft wurde, dass ich stumm war und ein anderes Leben als die anderen Schüler führte, obwohl sie nicht einmal ahnten, dass ich Klavier spielen, auf Pferden

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