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Die Erfindung des Lebens: Roman

Die Erfindung des Lebens: Roman

Titel: Die Erfindung des Lebens: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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und meiner gestorbenen Brüder sei, sich um meine in der Kirche geordneten Gedanken zu kümmern, ich selbst konnte doch keine Antworten auf meine vielen Fragen wissen, und am wenigsten wusste ich, wie die vielen Probleme, die sich jetzt in der Schule auftaten, zu lösen wären.
    Ich schlug denn auch gar nicht erst solche Lösungen vor, sondern beendete die Erzählungen von meinen Sorgen und Nöten einfach mit zwei Gebeten. Das Vater unser im Himmel … und das Gegrüßet seist Du, Maria … , mit diesen beiden Gebeten kam man in jeder Notlage aus, das wusste ich, denn genau das, dass man nämlich mit diesen beiden Gebeten überall durchkomme und in ihnen alles Wichtige drinstecke, hatte der Vater einmal nach einem Gottesdienst so felsenfest behauptet, als gäbe es daran nicht die geringsten Zweifel.
    Eine weitere wichtige Station meines Schulwegs war schließlich die Kappes- Wirtschaft, in die sonst nur Erwachsene gingen. Nach der Schule aber war ich einmal kurz hinein und heimlich auf die Toilette gehuscht, und auf dem Rückweg durch den Vorraum, in dem ich früher oft mit Vater gestanden hatte, einem Köbes aufgefallen, der mir sofort, ohne dass ich irgendein Zeichen gegeben hätte, ein Kölschglas mit Trinkwasser hingestellt hatte.
    Kaum eine Geste hatte mich derart überrascht und glücklich gemacht wie dieses selbstverständliche, wortlose Hinstellen eines Glases mit Trinkwasser, hatte es mir doch gezeigt, dass ich in der Kappes -Wirtschaft einfach dazugehörte. Hier schaute sich niemand nach mir um, und hier starrte mich niemand an, ich gehörte einfach dazu, ohne viele Worte! Und so hatte ich eine Weile allein unter den trinkenden und sich unterhaltenden Männern gestanden, um in Ruhe mein Glas zu leeren und nach einem kurzen Winken wieder auf die Straße zu verschwinden.
    Seither besuchte ich die Kappes -Wirtschaft häufiger und wurde schließlich sogar jedes Mal lauthals begrüßt, Leute, unser jüngster Stammgast ist da! , hieß es dann, worauf die trinkenden Männer mir zuprosteten, nach dieser kurzen Begrüßung aber ohne Umschweife wieder ihre Unterhaltungen fortsetzten.
     
    Wenn ich über all diese Veränderungen in meinem Leben nachdachte, kam ich trotz der schlimmen Schulstunden manchmal auch zu dem Ergebnis, dass es in meinem Leben nicht nur Veränderungen hin zum Schlechten, sondern auch zum Guten gab. Alleine unterwegs zu sein, machte Vergnügen. Und, noch viel wichtiger: Ich war zwar allein unterwegs, konnte mich aber zum ersten Mal in meinem Leben auf Freunde verlassen.
    Der Zeitschriftenhändler zum Beispiel, der war mein Freund, die Köbesse in der Kappes- Wirtschaft waren Freunde, und die schöne Maria und meine gestorbenen Brüder waren so gute Freunde, dass ich mir keine besseren hätte wünschen können. Solche sehr guten Freunde übernahmen sogar vieles von dem, was ich aus eigener Kraft nicht bewerkstelligen konnte, sie zauberten hier und da, und wenn sie so richtig drauflos zauberten, geschahen manchmal sogar richtige Wunder.
     
    Ein solches Wunder ereignete sich zum Beispiel, als ich Vater an einem sonnigen Vorfrühlingstag zum Training der Galopper auf der nahen Galopprennbahn in Weidenpesch begleiten durfte. Bei Spaziergängen mit den Eltern hatte ich diese Rennbahn aus der Entfernung bereits mehrmals gesehen, diesmal aber ging Vater mit mir allein dorthin. Wir standen hinter den weißen Latten der Absperrung und erlebten ganz aus der Nähe, wie die Pferde von den Jockeys auf die ovale, weite Rennbahn geritten wurden.
    Nur wenige Meter entfernt galoppierten die Tiere an uns vorbei, ich fand es schade, dass sie so schnell waren, jedes Mal blickte ich starr auf ein heraneilendes Tier und versuchte, seine Bewegungen genau im Blick zu behalten. Dunkle Erde spritzte unter den dumpf aufschlagenden Hufen, ein heftiges Schnauben näherte sich und verebbte rasch wieder, all das ereignete sich in einem derart hohen Tempo, dass ich die Bewegungen der Tiere nicht richtig verfolgen konnte.
    Das änderte sich aber, als einer der Trainer sein Pferd nach dem Absitzen dicht an Vater und mir vorbeiführte und sogar für einen kurzen Augenblick haltmachte. Ich konnte das Tier nun ganz aus der Nähe anschauen und tat das auch so genau, dass ich nicht mitbekam, wie der Jockey mich anredete. Dass ich angeredet worden war, wurde mir vielmehr erst klar, als Vater für mich einsprang und erklärte, dass ich nicht antworte, weil ich stumm sei. Stumm?, antwortete der Jockey, richtig stumm? Ich nickte und

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