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Die Erfindung des Lebens: Roman

Die Erfindung des Lebens: Roman

Titel: Die Erfindung des Lebens: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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endlich sah ich Vater näherkommen und den ovalen Platz überqueren, ich wünschte mir sehr, dass er so winkte wie immer, und tatsächlich, er winkte wie immer zu mir hinauf. Auch sonst verlief seine Ankunft wie üblich, nur dass er die Mutter nicht im Wohn-, sondern im Schlafzimmer antraf, wohin sie sich mit einem Buch in ihr Bett zurückgezogen hatte. Statt aber wie sonst zunächst ins Bad zu gehen und Wasser zu trinken, ging Vater diesmal in die Küche. Ich wagte nicht, ihm zu folgen, sondern blieb auf dem Boden des Wohnzimmers sitzen, bis er Mutters Brief gelesen hatte.
    Das aber dauerte sehr lang, ja es dauerte sogar so lang, dass ich es beinahe nicht mehr ausgehalten hätte und ebenfalls in die Küche gegangen wäre. In dieser Zeit musste der Vater den Brief nicht nur einmal, sondern mehrmals und immer wieder gelesen haben, warum aber, dachte ich, war das nötig, warum war der Brief der Mutter denn so schwer zu verstehen?
     
    Als Vater schließlich in der Tür des Wohnzimmers erschien, hielt er die Briefbögen in der rechten Hand. Er blieb zunächst in der Tür stehen und schaute mich an, sein Mund stand ein wenig offen, aber er sagte nichts weiter, sondern betrachtete mich, als hätte ich mich seit dem frühen Morgen verändert und wäre nun ein ganz anderes Kind. Was war denn bloß los, warum betrachtete mich Vater so seltsam und warum sagte er nichts, sondern starrte mich nur die ganze Zeit derart merkwürdig an?
    Als ich ihn ebenfalls länger anschaute, bemerkte ich, dass auch er sich verändert hatte, er hatte den obersten Knopf seines Hemdes geöffnet und stand in der Tür, als habe er zuvor eine schwere, schweißtreibende Arbeit getan. Anscheinend schwitzte er so stark, dass ihm das weiße Hemd am Leib klebte, jedenfalls erkannte ich plötzlich auch das Unterhemd, das er unter seinem weißen Hemd trug. Dass mein Vater aber gleichsam im Unterhemd dastand, hatte ich noch niemals gesehen, im Unterhemd wirkte er sehr mager und viel schmaler als sonst, als trüge er noch viel weniger als ein Unterhemd, ja, als trüge er ein dünnes Leibchen von der Art, wie auch ich manchmal eines trug.
    Ich wollte aufstehen und auf ihn zugehen, als er sich näherte und sich dann vor mich auf den Boden setzte. Er schlug die Beine zu einem Schneidersitz übereinander und stützte sich mit den Händen nach beiden Seiten ab, dann legte er die von Mutter beschriebenen Briefbögen beiseite und begann langsam zu sprechen. Ich aber war von all diesen Gesten derart überrascht, dass ich plötzlich sehr aufgeregt und angespannt war. Noch nie hatte mein Vater so ausgesehen, und noch nie hatte er sich im Schneidersitz so vor mich hingesetzt.
    Er begann davon zu sprechen, was am Morgen geschehen war, er gab es ganz richtig wieder, denn er sagte, dass ich die Schule anscheinend nicht möge und deshalb mit der Mutter wieder nach Hause zurückgekehrt sei. Dann aber sagte er weiter, dass sich so etwas nicht wiederholen dürfe und ich mich nun dringend bemühen müsse, die Schule zu mögen, weil sonst nichts aus mir werden würde, nichts, rein gar nichts, niemals.
     
    Ich verstand genau, was er meinte, er machte jetzt ernst mit dem Thema Schule. Lieber wäre es mir gewesen, wenn er schon vor ein paar Wochen ernst damit gemacht hätte, das wäre auf jeden Fall besser gewesen. Ich überlegte, was das alles, was er sagte, nun im Einzelnen bedeutete, als er nach einer langen Pause noch einmal von vorne, aber jetzt in einem ganz anderen Ton, zu sprechen begann.
     
    Er sagte nämlich sehr leise, dass Mutter und er sich ein Leben lang viele Kinder gewünscht hätten. Kaum dass sie geheiratet hätten, habe Mutter auch einen ersten Jungen zur Welt gebracht, und später habe sie noch drei weitere Buben geboren. All diese vier Buben seien jedoch gestorben, nur ich sei von all diesen Kindern übrig geblieben. Wenn es den Krieg nicht gegeben hätte, säße ich also hier nicht allein, sondern mit vier Brüdern, so jedenfalls hätten Mutter und er sich das gedacht und gewünscht. Die vier Brüder aber befänden sich nun im Himmel, und von ihren Plätzen im Himmel aus würden sie mich beschützen und in die Schule begleiten. Deshalb könne mir in der Schule nichts zustoßen, und deshalb brauche ich vor der Schule auch keine Angst zu haben. Am nächsten Morgen werde er selbst mich dort hinbringen, und er wünsche sich sehr, dass ich dann in der Schule bleibe, schon allein meinen gestorbenen Brüdern zuliebe.
     
    Ich sah, dass Vater, je länger er sprach,

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