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Die Erfindung des Lebens: Roman

Die Erfindung des Lebens: Roman

Titel: Die Erfindung des Lebens: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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überhören, denn Vater war außer sich. Erst nach einiger Zeit kam er zurück in die Küche, schaute mich an und sagte: Für diesen Brief wird sich Dein Lehrer bei Deiner Mutter, bei mir und bei Dir entschuldigen! Und auch der Schuldirektor wird sich entschuldigen! Und zwar hier, an diesem Tisch! Und zwar morgen, sobald ich mit ihnen gesprochen habe!
     
    Als ich das hörte, war ich im ersten Augenblick überwältigt. Der Lehrer und der Direktor sollten sich entschuldigen, natürlich, das war das Erste, was als Nächstes geschehen musste, und danach würde man weitersehen! Vater aber war von alldem derart mitgenommen, dass er die Wohnung verließ, um, wie er sagte, etwas Luft zu schöpfen. Ich eilte zum Fenster, um zu sehen, was er nun draußen tun würde, als er aber auf dem ovalen Platz erschien, schaute er kurz zu meinem Fenster hoch, und als er mich dort sitzen sah, schüttelte er den Kopf, machte kehrt und kam die Treppen wieder hinauf, um mich mitzunehmen und mit mir gemeinsam spazieren zu gehen.
    Ich zog rasch den Anorak über, und dann gingen wir zusammen hinaus. Draußen angekommen, bemerkte ich aber, dass Vater überhaupt nicht wusste, wohin es gehen sollte, vielmehr gingen wir nur einfach drauflos und machten dann irgendwo wieder kehrt und gingen wieder drauflos, als wären wir vollkommen durcheinander. Da wurde mir klar, dass Vater kein richtiges Ziel hatte und dass es vielleicht helfen würde, ihm meine Hand hinzuhalten. Ich streckte sie ihm hin, und er nahm sie auch wahrhaftig, und dann gingen wir Hand in Hand eine Weile, bis wir in die Nähe der Kappes- Wirtschaft gerieten. Kurz vor der Wirtschaft blieb ich stehen, und dann zeigte ich auf die Wirtschaft, um Vater zu bedeuten, dass wir in die Wirtschaft gehen sollten. Was willst Du denn?, fragte er, der sonst doch immer sofort verstand, was ich meinte. Ich aber machte eine kurze Geste, als trinke ich gerade ein Kölsch-Glas leer, und da verstand er endlich, was ich gemeint hatte.
     
    Am nächsten Morgen sagte er, dass er nun als Erstes in die Schule gehen werde und dass Mutter und ich die Wohnung nicht verlassen, sondern auf seine Rückkehr warten sollten. Kaum zwei Stunden später kam er dann wirklich zurück, und dann gingen wir zu dritt in die Küche, und Vater sagte, dass der Lehrer und der Direktor gegen Mittag kommen würden, um sich, wie er es verlangt habe, bei uns zu entschuldigen.
    Im Grunde hatte ich diesen Ausgang der Sache erwartet, niemand kam gegen Vater an, kein Lehrer und kein Direktor, meine starke Aufregung legte sich aber trotzdem nicht, denn ich ahnte ja nicht im Geringsten, wie es nach den Entschuldigungen weitergehen würde. Auch Vater sagte dazu nichts, sondern redete wie schon am Tag zuvor eine Weile auf Mutter ein, während ich wieder allein in der Küche saß, ängstlich und furchtsam.
     
    So verging die Zeit bis zum Mittag voller Unruhe, bis es endlich klingelte, und ich genau hörte, wie zwei leise murmelnde Männerstimmen sich durch das Treppenhaus näherten. Vater begrüßte die Männer an der Tür, und dann führte er sie in die Küche, wo sie mir die Hand gaben. Danach aber ging er mit ihnen ins Wohnzimmer und schloss wieder die Tür hinter sich zu, so dass ich meine beiden Ohren wieder zustopfte, weil ich befürchtete, dass Vater nun wieder die Donnerstimme einsetzen und entsetzlich wüten werde.
    Ich hörte aber nichts dergleichen, vielmehr kamen die drei Männer schon bald in die Küche zurück, und der Direktor sagte, dass er sich im Namen der Schule bei mir und meinen Eltern entschuldige. Der Lehrer und er, setzte er noch hinzu, hätten keine Ahnung gehabt, wie es zu meinem Stummsein gekommen sei, es tue ihnen leid, alles tue ihnen wirklich sehr leid. Ich hörte genau zu, wusste aber nicht genau, wovon der Direktor sprach. Sprach er von meinen vier Brüdern, oder hatte Vater den beiden noch mehr von unserem geheimen Familienleben erzählt?
    Vater selbst schienen die Worte des Direktors auch nicht sehr zu behagen, jedenfalls machte er nur eine kurze Geste, als sei nun genug geredet worden. Dann aber kam er zu mir und packte mich von hinten an beiden Schultern. Wir beide , sagte er zu mir, wir beide werden nun eine Weile verreisen. Jetzt verstand ich auch nicht, was er meinte und schaute mich nach ihm um. Da aber packte er mich noch fester an beiden Schultern und sagte zum Abschluss des Gesprächs: Wir verreisen aufs Land, da gibt es die große Natur, und die große Natur ist die beste Schule, die es überhaupt

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