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Die Erfindung des Lebens: Roman

Die Erfindung des Lebens: Roman

Titel: Die Erfindung des Lebens: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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gibt.

II
     
    Lesen und Schreiben
     

13
     
    WENN ICH an diese frühen Jahre meines Lebens zurückdenke, kommen sie mir vor wie ein Film aus den dreißiger Jahren. Es ist ein Film in Schwarz-Weiß mit einem dumpfen, wackligen Ton, man sieht die Darsteller sprechen, hört sie aber zeitversetzt, einige Bruchteile von Sekunden später. Die Personen bewegen sich langsam, wie in Trance, der Hintergrund ist leicht verschwommen, alles wirkt gedämpft und durchdrungen von einer nicht abzuschüttelnden Melancholie. Die Jahre des Krieges scheinen noch allgegenwärtig, als wären die Menschen erst gerade den Luftschutzkellern und Bunkern entkommen und als hätten sie den Staub noch nicht ganz von den Mänteln geschüttelt. Angst und Erschöpfung sind im alltäglichen Leben zu spüren, das viel langsamer verläuft als das Leben heutzutage, ja beinahe zeitlupenhaft an einem vorbeizieht. Ich aber, der stumme Beobachter, schaue auf das alles aus einer starren Distanz. Es ist, als hätte sich zwischen mir und der Welt ein unüberwindbarer Graben aufgetan. Ich blicke über diesen Graben hinweg, ich blicke hinüber in das Land der Handelnden und Sprechenden, dieses Land aber ist für mich nicht zu erreichen.
    Ich weiß nicht, wie zeittypisch solche Wahrnehmungen sind, vielleicht sind sie auch weniger zeittypisch als typisch für meine eigene, besondere Wahrnehmung, die Sehen, Hören und Denken oft nicht zusammenbrachte. Häufig kam es nämlich vor, dass ich beinahe zwanghaft nur mit einem meiner Sinne beschäftigt war, ich starrte auf irgendein Detail meiner Umgebung und hörte nichts mehr, oder ich hörte Musik und nahm den Raum um mich herum nicht mehr wahr. Wollte ich aber einmal über etwas nachdenken, störten sowohl Sehen wie Hören, und ich brauchte für mein verqueres Phantasieren eigene Räume wie zum Beispiel den Raum der kleinen Marien-Kapelle, in dem mich nichts ablenkte.
     
    Noch viel schwieriger aber wurde alles, wenn die Außenwelt direkt auf mich zukam und von mir eine rasche Antwort verlangte. In solchen Fällen brauchte ich einige Zeit, um die jeweilige Frage zu verstehen und mir zusätzlich auch noch zu überlegen, was ich tun sollte. Da ich nicht sprechen konnte, musste ich auf irgendeine andere Weise reagieren, die aber fiel mir oft nicht gleich ein, so dass ich nicht selten eine hilflose, unverständliche Geste gemacht habe. Manchmal wirkte eine solche Geste, als wollte ich in Ruhe gelassen werden, genau das aber wollte ich eigentlich nicht sagen, die Geste sah nur danach aus und wirkte so schroff, weil ich nicht anders reagieren konnte.
     
    Später erst ist mir aufgefallen, wie sehr gerade Lesen und Schreiben das Zusammenspiel der Sinne trainieren. Ununterbrochen waren die Mitschüler in der ersten Volksschul-Klasse ja genau damit beschäftigt: Einen an die Tafel gemalten Buchstaben oder ein Bild zu kopieren, ihn nachzuschreiben oder abzumalen und das alles mit bestimmten Lauten, Worten und Sätzen in Verbindung zu bringen. Für mich ging das alles zu schnell, jedes Mal blieb ich im Training dieser Abläufe irgendwo stecken und widmete mich einem Detail, das ich dann in meinem Kopf durchzuspielen begann.
    Dabei aber entstanden die seltsamsten Systeme: Seiten, die aus lauter As bestanden, manche auf dem Kopf, andere ineinandergeschoben oder miteinander verflochten, wieder andere wie zu einem Berg aufeinandergetürmt; innere Laute und Klänge, die gar nicht mehr aufhören wollten zu tönen und in mir das Bild von ins Unendliche verlaufenden Linien hervorriefen; Abbildungen solcher Linien, die ich mit leichten, kaum merklichen Lücken und Unterbrechungen (sie sollten das Atemholen darstellen) wie Ketten von Morsesignalen zeichnete, immer enger und dichter untereinander, bis sie schließlich ineinander übergingen und in ein schwarzes Feld mündeten.
     
    Das alles muss auf den Lehrer verstörend gewirkt haben. Je weiter er mit uns in seinem Pflichtprogramm fortschritt, umso merkwürdigere Phantasie-Systeme entstanden auf meinem Papier. Auf das Schultempo und die damit verbundene Überforderung reagierte ich panisch: Ich zeichnete unaufhörlich vor mich hin, ich malte lauter Ornamente und Arabesken, ich behandelte alles, was mir aufgetischt wurde, wie Spielmaterial, das ich in meine eigenen Systeme einbaute, um damit unbegrenzt spielen und mich seiner lästigen Aufdringlichkeit entledigen zu können.
    Von Woche zu Woche muss mein Umgang mit allem, was uns beigebracht wurde, dabei immer kurioser geworden sein,

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