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Die Erfindung des Lebens: Roman

Die Erfindung des Lebens: Roman

Titel: Die Erfindung des Lebens: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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galoppieren und mit der schönen Maria und vier Brüdern im Himmel sprechen konnte.
     
    Nach etwa zwei Monaten gab ich mitten in einer Schulstunde auf. Der Junglehrer hatte sich wieder einmal über mich lustig gemacht, daraufhin raffte ich den ganzen Krimskrams, der vor mir auf dem Tisch lag, zusammen und warf ihn wie lästiges Geröll in meinen Ranzen. Dann schloss ich ihn zu, zog mir den Anorak über und setzte mich wieder, als warte ich nur noch das Ende der Stunde ab, um endlich zu verschwinden. Für den Junglehrer war das alles zu viel, er schickte die Mitschüler nach draußen, baute sich vor mir auf und verkündete, dass dieser Schultag wahrscheinlich mein letzter sein werde. Ich saß regungslos da, während er meinem Vater einen kurzen Brief schrieb und ihn in die Schule bestellte. Dann drückte er mir den Brief in die Hand und schrie Geh, hau ab, geh sofort! , wobei er mir zur Verstärkung noch die Faust zeigte.
     
    Und so machte ich mich mitten in einer dritten Stunde bereits auf den Heimweg. Ich hatte etwas Zeit, daher ging ich langsamer als sonst und machte einige kleine Umwege, an dem kleinen Kino neben der Kirche vorbei, und weiter, über den Markt, wo an drei Tagen in der Woche einige Stände mit frischem Gemüse und Obst vom nahen Land aufgebaut waren. Auf dem Wochenmarkt schenkte mir ein Verkäufer einen Apfel, ich steckte ihn in eine Hosentasche und ging dann in die kleine Kirche, um der schönen Maria und meinen vier Brüdern von dem grausamen Schulmorgen zu erzählen.
    Ich wusste nicht, wie es mit mir weitergehen sollte, vielleicht würde man mich ja wahrhaftig in eine Sonderschule stecken, allerdings konnte ich mir nicht vorstellen, dass Vater einem solchen Vorhaben zustimmen würde. Alles, aber auch alles kam nun auf Vater an, ich vertraute ihm, Vater hatte mich noch nie enttäuscht, und Vater würde mir auch nicht böse sein, sondern sich darum bemühen, irgendeine Lösung zu finden.
    Am einfachsten wäre es gewesen, wenn ich eine Schule hätte besuchen dürfen, in der die Schüler nur Musik gemacht und Klavier gespielt hätten. In einer solchen Schule hätte ich nicht zu reden brauchen, und in ihr wäre ich bestimmt ein glänzender Schüler geworden. Buchstaben schreiben, zeichnen und malen konnte mit gutem Willen ein jeder, Klavier spielen dagegen, das konnten nur wenige. In der Volksschule konnte gewiss kein einziges Kind so gut Klavier spielen wie ich. All das nutzte mir aber nichts, denn anscheinend hatte man in meiner Schule für Musik kaum etwas übrig. Da Musik und Klavier spielen aber das Einzige waren, was ich konnte, gab es wohl nirgends irgendeinen Ort, wo man mich hätte unterbringen können. Und zu Hause, zu Hause konnte ich doch wohl auch nicht bleiben. Natürlich wäre ich am liebsten genau dort geblieben, Vater hätte mir alles Wissenswerte beibringen können, und in der übrigen Zeit hätte ich Klavier gespielt und Mutter wieder so wie früher bei ihren Einkäufen und Besorgungen geholfen.
     
    Als ich nach vielen Umwegen endlich gegen Mittag zu Hause ankam, zeigte ich Mutter den Brief des Junglehrers nicht, sondern ließ ihn bis zum Abend, als Vater nach Hause kam, in meinem Ranzen. Dann erst nahm ich ihn heraus und überreichte ihn Vater, der das Couvert sofort aufriss, einige Sätze überflog und dann mit mir in die Küche ging. Die ernsten und wichtigen Dinge wurden bei uns immer am Küchentisch durchgenommen und entschieden, ich kannte das schon, am Küchentisch setzte der Vater seine Studierbrille auf und las und las, auch das kannte ich ja bereits, denn Vater las ernste und wichtige Sachen langsam und mehrmals, und wenn er alles langsam und mehrmals gelesen hatte, wusste er meist genau, was zu tun war.
    Diesmal aber nahm er nach der Lektüre das Papier in die linke Hand und drosch dann mit der rechten immer wieder darauf ein. Unglaublich! , sagte er, unglaublich! Was untersteht sich der Kerl?! Danach aber stand er auf und ging durch die Wohnung zur Mutter und zog die Wohnzimmertür hinter sich zu und sprach mit ihr allein, so aufgebracht und laut, wie ich ihn bis dahin noch nicht hatte sprechen hören. Ich wollte ihn aber auf keinen Fall belauschen, deshalb blieb ich in der Küche sitzen und hielt mir die Ohren zu, doch trotz zugehaltener Ohren hörte ich den Vater toben, mit jener Donnerstimme, die er sonst nur beim Gesang in der Kirche einsetzte. Mit aller Macht presste ich mir mit beiden Zeigefingern auf die Ohren, doch es half nichts, Vaters Stimme war nicht zu

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