Die Erfindung des Lebens: Roman
schließlich bewegte ich mich nur noch in einem System von Geheimzeichen, die nur ich verstehen und mit denen nur ich etwas anfangen konnte. Ich saß da wie ein Schüler Paul Klees: Unablässig verwandelte ich die gesamte Schulwelt in ein kindliches Gekritzel, das alle Blätter lückenlos bedeckte. Die Ergebnisse waren in meinen Augen Die Schularbeiten , denn Schularbeiten machen hieß damals in meinem Verständnis: Mit hochrotem, immer heißer werdendem Kopf die Weiße des Papiers allmählich auslöschen, sie zudecken, sie ein für allemal zum Verschwinden bringen …
Mein Vater hat den Brief aufbewahrt, den der Junglehrer ihm damals geschrieben hat. Viele Jahre später habe auch ich ihn gelesen. Ein stummes Kind wie Johannes ist eine Zumutung für unsere Schule … , so beginnt er, und er endet nach vielen, immer drastischer werdenden Vorhaltungen vernichtend: Ich möchte Sie aus all diesen Gründen bitten, für Ihren Sohn, der an unserer Schule nichts als Anstoß erregt, eine andere, seinen verminderten und wirren Fähigkeiten eher entsprechende Aufbewahrungsanstalt zu finden.
In den Augen des Lehrers war ich also nicht nur lästig, sondern verrückt. Obwohl er sich niemals auch nur eine Minute Zeit für mich genommen hatte, glaubte er doch fest zu wissen, dass ich für den Besuch einer Volksschule nicht geeignet war. Ich gehörte abgeschoben, wohin, das interessierte ihn nicht, Hauptsache, ich kam ihm nicht mehr unter die Augen und fiel in seinem Unterricht nicht mehr dadurch auf, dass ich nichts sagte.
Bereits dieses Stummsein war zu viel, denn es machte mich zu einem, der anders, schwierig und damit ein Störfall war. Dass so einer von den anderen Mitschülern dazu noch täglich und von Tag zu Tag mehr gequält wurde, war angeblich auch nicht zu vermeiden, denn wer stumm blieb, der hatte mit so etwas zu rechnen und war selber schuld. Um einen Stummen brauchte man sich schließlich auch nicht länger zu kümmern oder nachzuschauen, was er alles so leistete, es war sowieso nichts wert, es war Schrott, nichts als Schrott , und aus diesem Schrott würde niemals etwas werden. So war die Abrechnung, die der Junglehrer vornahm, in jeder Hinsicht komplett und lückenlos. Es gab, wollte er sagen, keinen Ausweg mehr, die Sache war hoffnungslos, ich gehörte von der Schule entfernt.
So schlimm und herabsetzend ein solches Urteil auch war, im Nachhinein muss ich diesem Lehrer – trotz all des Zorns, den ich noch heute empfinde, wenn ich an diesen Brief denke – für seinen Ausraster beinahe danken. Denn obwohl der Brief nichts anderes war als eine einzige, demaskierende Entgleisung, sorgte er doch dafür, dass von einem Tag auf den andern etwas geschah.
Noch heute verstehe ich jedoch nicht, wieso meine Eltern es überhaupt so weit kommen ließen. Ich nehme an, meine Mutter wollte generell nicht, dass sich etwas änderte, und Schule bedeutete natürlich eine starke Veränderung, während mein Vater sich durch meine anderen Leistungen und nicht zuletzt durch meine Leistungen am Klavier täuschen ließ. Wer so rasch Klavier spielen lernte und derart verblüffende Fortschritte machte, der würde – nach einigen Anlaufschwierigkeiten – auch in der Schule zurechtkommen.
Anlaufschwierigkeiten – das war die Vokabel, die mein Vater benutzte, um sich meine Lernprozesse zu erklären. Er hatte beobachtet, dass ich mich hier und da schwertat, nach einiger Zeit jedoch mit den Problemen zurechtkam. Dasselbe erwartete er auch von meinen Leistungen in der Schule: Nach einigen Monaten würde ich schreiben und lesen wie die anderen Schüler auch, davon war er fest überzeugt. Nicht in Rechnung gestellt hatte er, dass meine Wahrnehmung durch die vielen Jahre einer beinahe totalen Isolation längst stark geprägt und nur noch schwer veränderbar war. Und erst recht hatte er nicht daran gedacht, wie schwer man mir das Leben in der Schule machen würde.
An so etwas nämlich dachte Vater nicht, so etwas war für ihn unvorstellbar, erst der Brief des Lehrers zeigte ihm die ganze Brisanz der Lage und deren volle Wahrheit: Man beschimpfte mich, man wollte mich loswerden, ja man gab sogar zu, für meine Sicherheit nicht bürgen zu können, da der Hass der meisten Schüler auf mich nur zu verständlich und durchaus begründet sei. Keinem dieser Schüler hatte ich je etwas getan, keinem war ich zu nahe gekommen, jeden Affront und jede Provokation hatte ich zu vermeiden versucht. All das aber spielte keine Rolle, denn bereits
Weitere Kostenlose Bücher