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Die Erfindung des Lebens: Roman

Die Erfindung des Lebens: Roman

Titel: Die Erfindung des Lebens: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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Mutter oft hörte und die Chansons genannt wurden. Keine Opern also, sondern Chansons, französische Chansons!
    Ich legte mich auf den Rücken, schloss wieder die Augen und hörte Mutters leises Summen, das bis zum Waldrand reichte, ich versuchte, mir dieses Summen zu merken, ja, so ging es, so genau, ich würde so bald wie möglich einmal versuchen, diese Melodie auf dem Klavier zu spielen, das müsste wohl gehen, denn die Noten hatte ich ja bereits im Kopf, so dass ich später am Abend die ganze Melodie in mein Notenheft eintragen würde!
     
    Dann aber wurde es endgültig still. Gleich würde die Sonne an dieser Stelle auch untergehen, während der Hof noch einige Minuten länger im letzten Licht lag. Ich wartete nicht, sondern lief über die Wiesen rasch in der Richtung des Hofes zurück, Mutter sollte mich auf keinen Fall sehen, ich würde mich vielmehr in die Wirtschaft setzen und abwarten, bis sie dort erschien.
    Sonst war es in der Wirtschaft zu dieser Abendstunde meist richtig voll, diesmal aber war es das nicht, ich schlüpfte hinein und setzte mich an einen der leeren Tische, anscheinend waren alle gerade nach draußen in den Garten gegangen, um dort gemeinsam etwas zu trinken und irgendeinen Anlass zu feiern, jedenfalls hörte ich draußen einige Rufe und Deklamationen, als feierte man einen Geburtstag.
    Ich war plötzlich sehr müde und gleichzeitig sehr aufgeregt, ich wusste nicht wohin mit all meinen durcheinandergeratenen Gefühlen. Am liebsten wäre ich draußen im Fluss schwimmen gegangen, aber das ging nicht mehr, denn am Fluss war es bereits dunkel. Die Tür der Gastwirtschaft stand offen, ich blickte hinaus, draußen vor der Tür wirbelte noch der letzte Sonnenstaub des Abends, das Licht fiel noch ein wenig hinein in die sonst bereits eingedunkelte Gaststube, ein letztes Licht war es, höchstens noch eine schmale Spur, wie ein kleiner Feuerbrand, der sich jetzt gerade zurückzog und schlafen legte …: ich stand auf und folgte dem kleinen Strahl und wartete dann in der offenen Tür, dass die vollkommene Dunkelheit einbrach, als ich auf der Straße vor der Wirtschaft noch zwei fremde Kinder Ball spielen sah.
    Sie spielten ganz ruhig, als wäre dieses Spiel das wirklich letzte, das sie heute noch spielen würden, sie kickten den Ball in regelmäßigem Rhythmus hin und her, der eine zum andern, hin und her …, ich schaute ihnen zu, es war so schön, das zu sehen, dieses ruhige Kicken, keinen Streit, kein Sprechen, nur dieses Kicken, hin und her.
     
    Da machte ich eine kleine Bewegung nach vorn und rief den beiden zu: Gebt mal her!
     
    Ich war von diesem kurzen Zuruf selbst so erschrocken, dass ich beinahe gestürzt wäre. Wie bitte?! Hatte ich gerade etwa gesprochen?! War ich das gewesen? Waren diese wenigen Laute meine eigenen Laute gewesen?
    Ich bewegte mich nicht, ich starrte die beiden Jungen an und sah, wie sich der kleinere zu mir drehte und mir den Ball zukickte, klack! , machte es, und der Ball sprang kurz vor mir auf, und ich bückte mich und packte ihn mit den Händen und hielt ihn fest und drückte ihn an meine Brust.
     
    Was tust Du denn? , rief da der andere der beiden Jungen, nicht mit den Händen, mit den Füßen! Ich verstand aber nicht genau, was er meinte, ich hörte ihm nicht richtig zu, ich versuchte vielmehr zu verstehen, dass die beiden Jungs mich nicht kannten und daher nicht ahnten, dass der in der Tür stehende Bub, der soeben den Ball mit den Händen statt mit den Füßen berührt hatte, gerade den ersten Satz seines Lebens gesprochen hatte: Gebt mal her!
     
    Gib wieder her! , rief der jüngere der beiden, sein Ruf ließ mich erwachen, so dass ich den Ball fallen ließ und ihn zu den beiden Jungen zurückkickte, die den Spaß daran, mit mir zu spielen, sofort wieder verloren hatten und allein weiterspielten. Das jedoch machte mir gar nichts aus, nein, sollten sie doch weiterspielen, das war jetzt nicht wichtig, wichtiger war, dass ich es geschafft hatte, laut und deutlich zu sprechen, und dass es Menschen gab, die dieses Sprechen verstanden und darauf auch reagierten.
    Ich drehte mich um und ging wieder in die jetzt dunkle Gaststube zurück, ich tastete mich an der Theke entlang und bog dahinter in den schmalen Flur ein, über den ich zu der Treppe gelangte, die hinauf zu den Fremdenzimmern führte. Das Zimmer, das Vater und ich bewohnten, war nicht verschlossen, auf dem Bett lag jedoch ein schwerer geöffneter Koffer mit Mutters Sachen, es sah so aus, als wäre sie

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