Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Erfindung des Lebens: Roman

Die Erfindung des Lebens: Roman

Titel: Die Erfindung des Lebens: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
Vom Netzwerk:
waschen und, wenn er uns rufe, mit ihr gemeinsam zum Abendessen zu erscheinen.
     
    Ich ging also die Treppe zu unserem Zimmer hinauf und überlegte, ob ich noch weiter in diesem Zimmer schlafen oder ob man mich aus Platzmangel noch an diesem Abend in eines der anderen Fremdenzimmer verlegen würde. Die Tür unseres Zimmers stand ein wenig offen, so dass ich hineinschauen konnte. Mutter stand vor dem Spiegel und betrachtete ihr Spiegelbild, sie probierte ein Kleid an, das ich zuvor noch nie gesehen hatte. Dieses Kleid war rot, ja, genau, es handelte sich um ein rotes, nein, dunkelrotes Sommerkleid mit einem runden Ausschnitt über der Brust und einer langen Knopfleiste, die vom Ausschnitt aus bis hinunter zu den Knien verlief.
    Da das Kleid keine Ärmel, sondern nur zwei einfache Träger hatte, waren Mutters Rücken, der Nacken und die Oberarme in weiten Partien frei, diese Partien aber waren nun viel heller als ihr Gesicht und erinnerten mich an den hellen, goldgelb aufschimmernden Körper, der kurz zuvor noch den See durchschwommen hatte. Die Holzbohlen im Flur quietschten ein wenig, als ich noch vor der Tür stand, deshalb drehte Mutter sich um, und ich sah sie bereits zum zweiten Mal an diesem Abend auf eine neue Weise, denn jetzt erschien sie mir plötzlich viel jünger als sonst und derart gut gekleidet, als habe sie sich fein gemacht für einen Auftritt …
     
    Komm her, mein lieber Junge! , eine Aufforderung etwa dieser Art verbinde ich mit ihrer knappen, einladenden Geste, so dass ich endlich Mut fasse, das Zimmer auch zu betreten. Sie zieht mich wieder an sich, aber jetzt viel sanfter und geduldiger als noch eben unten in der Gaststube, sie wiegt sich mit mir eine Weile hin und her und dann küsst sie mich auf die Stirn. Wir müssen uns erst wieder aneinander gewöhnen, nicht wahr? , etwas in der Art will sie mir anscheinend sagen, und ich sehe mich vor ihr stehen, unendlich verlegen und hilflos, weil ich nicht weiß, was ich tun soll.
    Der Raum, in dem ich mich jetzt befinde, ist aber nun Mutters Raum, ich rieche es genau, in diesen Raum ist nun der altertümliche, schwere Duft eingezogen, den ich später einmal als Maiglöckchenduft identifizieren werde. Noch aber weiß ich natürlich nichts von einem Maiglöckchenduft, sondern begreife nur, dass ich in diesem Zimmer nicht mehr übernachten werde, weil es nun das Elternzimmer ist.
    Dieser kurze Gedanke, der Gedanke, gerade aus dem Zimmer vertrieben worden zu sein, in dem ich mich in den letzten Wochen so wohlgefühlt habe, lässt mich einen Moment lang traurig und damit noch hilfloser werden, Mutter aber bemerkt so etwas natürlich sofort, sie vermutet allerdings, dass meine plötzliche Traurigkeit von ihrer langen Abwesenheit herrühre. Immer wieder streicht sie mir über den Kopf, als wollte sie diese Traurigkeit mit allen Mitteln vertreiben, dann aber kommt ihr ein Gedanke, und sie geht hinüber zum Bett, auf dem noch immer ihr schwerer, noch nicht ausgepackter Koffer liegt.
     
    Ich sehe sie, wie sie in diesen Koffer greift und einige Lagen ihrer Kleidung beiseite legt, schließlich stößt sie auf eine größere Mappe. Sie zieht diese Mappe hervor und winkt mir, ich solle zu ihr kommen, und dann öffnet sie die Mappe auf dem Bett und lässt mich sehen, was sich darin befindet: Meine Mutter hat mir das Alphabet in hunderten von bunten, anscheinend von ihr selbst aus Buntpapier ausgeschnittenen Buchstaben mitgebracht. Die bunten Buchstaben liegen in der Mappe alle wild durcheinander, aber ich erkenne sie deutlich, jedoch nicht als einzelne Buchstaben, sondern so, dass sich diese einzeln daliegenden Buchstaben in meinem Kopf sofort zu Wörtern verbinden.
     
    P und A …- und sofort funkt mein Kopf: Pappel. R, E und I …- und sofort funkt mein Kopf: Reiher. In Windeseile verbinden sich die wild verstreut herumliegenden Buchstaben in meinem Kopf zu Wörtern und kleinen Sätzen, es geht viel zu schnell, das spüre ich sofort, es geht so schnell und so rasant, dass mir schwindelt, ich schließe die Augen, aber die Buchstaben verbinden sich miteinander, auch ohne dass ich sie anschaue, es ist, als habe nun ein Automatismus Gewalt über mich, es schüttelt mich richtig durch, mir wird schlecht, ich schaffe es gerade noch, das Waschbecken aufzusuchen und mich zu übergeben.
     
    Mutter aber versteht anscheinend nicht, was da gerade mit mir geschehen ist, sie denkt wohl, dass mich ihre Ankunft so mitnimmt, jedenfalls lege ich ihr tröstendes Streicheln so

Weitere Kostenlose Bücher