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Die Erfindung des Lebens: Roman

Die Erfindung des Lebens: Roman

Titel: Die Erfindung des Lebens: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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mich?
    Ich konnte die Worte jedenfalls nicht verstehen, der Gesang ähnelte sowieso mehr einer Art Summen, und wenn es wirklich Worte waren, die sie benutzte, dann waren es wohl keine deutschen, sondern Worte einer anderen Sprache. Etwas in der Art hatte ich einmal auf einer ihrer Schallplatten gehört, seltsame Worte und ein seltsames Summen, im Grunde hörten sich die Worte bereits an wie ein Gesang, jedenfalls ging ihr Klang in Musik über.
    Immer wieder tauchte Mutter auch ab, und dann war es rings um den See beinahe erschreckend still, ich sah ihren hellen Körper wie etwas unfassbar Fremdes durch den goldgrünen See gleiten, als wäre sie nicht meine Mutter, sondern ein Waldwesen, und dann tauchte sie wieder auf, atmete kräftig durch und setzte ihren Gesang fort, als habe sie auch unter Wasser damit weitergemacht.
     
    Keine Sekunde lang dachte ich daran, mich ihr zu zeigen, nein, auf keinen Fall, mit diesem Waldwesen wollte ich keinen Kontakt aufnehmen, und so starrte ich weiter hinab und beobachtete die Szene und hörte das Singen und versuchte mir alles genau einzuprägen: Die kleinen Wellen, die Mutters Schwimmbewegungen ans Ufer warfen, die golden aufblitzenden winzigen Kämme des aufgewühlten Wassers in ihrer Nähe, ihren schmalen, mal auf dem Rücken, mal auf der Brust dahin gleitenden und so unendlich leicht wirkenden Körper, ihre dunklen Haare, die sich, je länger sie schwamm, immer mehr auflösten und, wenn sie tauchte, wie eine dunkle Insel im Wasser trieben …
     
    Man sollte wissen, dass ich bis zu diesem Moment noch nie einen Film gesehen hatte, ja dass ich nicht einmal genau wusste, was ein Film eigentlich war. In der Nähe unserer Kölner Wohnung gab es zwar ein kleines Kino, doch niemand hatte mich je mit hineingenommen. Auch ferngesehen hatte ich bis zu diesem Zeitpunkt nicht, in unserem Wohnhaus hatte kein Mensch Fernsehen, und auf dem Land gab es erst recht niemanden, der so etwas bereits besaß.
     
    An bewegte, gut ausgeleuchtete und inszenierte Bilder war ich also nicht gewöhnt, bisher hatte ich nur Fotografien kennengelernt. Jetzt aber sah ich meinen ersten Film, wie ihn der erfahrenste Regisseur nicht besser hätte inszenieren können. Es handelte sich um einen durch und durch erotischen Film, es handelte sich um das Erotischste überhaupt, was ich bis dahin gesehen hatte und für lange Zeit sehen würde. Es war eine Erotik, die sofort unter die Haut ging, und das in einem ganz wörtlichen Sinn.
    Am liebsten hätte ich mich nämlich sofort ausgezogen und mich zu der schwimmenden Schönen gesellt, die so aussah wie meine Mutter, am liebsten hätte ich die kostbare Zeit bis zum Sonnenuntergang mit ihr zusammen im Wasser verbracht. Ich hätte sie nicht berührt, nein, gewiss nicht, ich hätte mich ihr nicht genähert, ich wäre nur neben ihr durch den See geschwommen und hätte genauso getaucht und mich genauso wohlgefühlt wie sie auch.
    So weit von ihr entfernt auf dem Waldboden zu hocken und sie lediglich zu betrachten, das war dagegen nur schwer zu ertragen, ja, es war schlimm, ein bloßer Beobachter bleiben zu müssen und in diese schönen Bilder nicht eindringen und mitschwimmen zu dürfen.
    Was ich in diesen Momenten spürte, war ein wirklicher Schmerz, der von der Entbehrung herrührte, ich sah etwas durch und durch Begehrenswertes und durfte es nicht besitzen, ich blieb ausgeschlossen von der Wucht dieser Bilder und musste es hinnehmen, von ihnen überwältigt zu werden!
    Deshalb erhob ich mich langsam und achtete sorgfältig darauf, dass mich die schöne Frau nicht bemerkte. Ich wollte sie jedoch weiter im Auge behalten, und so schlich ich langsam wieder den Hang hinauf, drehte mich laufend nach ihr um, sah sie kleiner werden und hörte währenddessen doch ununterbrochen ihr Summen, das, als wollte es mich verhöhnen, lauter wurde, je mehr ich mich entfernte.
    Schließlich war sie gar nicht mehr zu sehen, doch das Summen blieb, ganz genau war es noch hoch oben im Wäldchen zu hören, ich schloss die Augen und versuchte, mich auf diese Melodien zu konzentrieren, und dann wusste ich plötzlich, dass es sich um ein französisches Stück handeln musste, ja genau, Mutter sang etwas Französisches , so nannte man es, denn ich glaubte mich gut zu erinnern, dass Vater einmal von jemandem gefragt worden war, ob Mutter noch immer diese französischen Sachen möge, Vater hatte genickt, und ich hatte dieses Nicken mit den vielen fremdsprachigen Musikstücken in Verbindung gebracht, die

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