Die Erfindung des Lebens: Roman
an, sondern hielt mich eine Zeit lang umschlungen, als genügte es ihr, meinen Leib wieder zu spüren und an sich zu pressen. Erst nach Minuten setzte sie mich wieder ab und ließ etwas locker, hielt jedoch weiter meine beiden Hände, als wollte sie nun mit mir tanzen. Bevor das aber geschehen konnte, blickte sie mir endlich auch ins Gesicht, und ich bemerkte, dass sie das Fremde jetzt ebenfalls spürte, ja, sie zuckte ein wenig zusammen und verlagerte ihr Gewicht wie nach einem kurzen Stolpern von einem Fuß auf den andern.
Dann aber ließ sie meine Hände los, und wir standen uns frei gegenüber. Ihr Mund stand etwas offen, ihre Lippen zitterten ein wenig, was mich jedoch am meisten hinschauen ließ und meine Blicke anzog, das waren ihre Haare, die durch das Baden im See vollkommen durcheinandergeraten waren und ihrem Gesicht etwas Wildes und Schönes verliehen.
So wild und schön hatte ich sie noch nie gesehen! Das offene Haar wirkte viel fülliger und üppiger als das gekämmte, geordnete, und das schmale Gesicht sah in diesem dunklen Wirrwarr noch schmaler als gewöhnlich aus, als bildete es eine strenge Maske, mit deutlich markierten Zügen. Die stark hervortretenden Backenknochen! Die sanft abfallende Stirn mit der alten Wunde über dem rechten Auge!
Wenn ich mich heute an diesen Anblick erinnere, so glaube ich, etwas beinahe Antikes, aber auch Rohes gesehen zu haben. Alles an diesem Kopf war Strenge, aber hinter dieser Strenge spürte ich etwas von Atemlosigkeit oder sogar von Gehetztheit, als wäre sie in Köln ununterbrochen unterwegs gewesen. Ihre Haut war von diesem Unterwegssein gebräunt, so dass der Schmuck, den sie nur an der rechten Hand trug, besonders hell aufleuchtete. Der Armreif, den mein Großvater ihr einmal geschenkt hatte! Der Hochzeitsring, den sie einmal verloren hatte und der dann doch im Keller unseres Kölner Wohnhauses wieder aufgetaucht war!
Ich staunte sie an, aber auch sie staunte, denn in vielen Zügen glich mein Äußeres dem ihren so, als wären wir nicht einige Zeit getrennt, sondern vielmehr ganz im Gegenteil noch enger als sonst zusammen gewesen. Auch ich war von den vielen Aufenthalten im Freien gebräunt, und auch meine Haare waren ganz anders als sonst, viel länger und außerdem vollkommen blond. Hinzu kam, dass die Spaziergänge und Wanderungen zusammen mit dem fast täglichen Schwimmen meinen Körper gekräftigt hatten, so dass an diesem Abend vor ihr in der Gaststube ein körperlich geschulter, ja beinahe athletischer Junge stand.
Später hat Mutter einmal behauptet, ich hätte den Eindruck einer Skulptur gemacht, die man gerade aus einem großen Steinblock herausgemeißelt habe, so glatt und kantig seien meine Umrisse gewesen. Meine Nase sei ihr viel spitzer und länger vorgekommen als zuvor, außerdem aber hätte ich hungrig ausgesehen, mein Gott!, wie mager ist er geworden! , habe sie mehrmals gedacht, wobei sie sich diese Magerkeit aber nicht habe erklären können, da jeder Gast von Hof und Wirtschaft im Normalfall wegen des guten und reichlichen Essens meist zugelegt habe.
Zum Glück kam in diesem Augenblick, als wir uns noch musterten, mein Vater hinzu, Vater ging direkt zu mir und legte mir den Arm um meinen Hals, als wollte er mich wie ein Schaustück präsentieren. Na, sieht er nicht gut aus? , fragte er, und ich sehe Mutter noch lächeln, als lächelte sie nicht über mich, sondern über den Stolz meines Vaters, der so tat, als habe er mich die ganze Zeit eigenhändig versorgt und gepäppelt.
Dann aber zog er mich mit in die Küche, wir essen in einer halben Stunde zu Abend, Katharina, höre ich ihn noch sagen, und ich wusste sofort, dass er Mutter mit diesem Satz aufforderte, sich die Haare zu kämmen und sich umzuziehen, damit sie später am Tisch einen ordentlicheren Eindruck machte.
Ich sah, wie sie mir noch einen letzten Blick zuwarf und dann wirklich die Treppe hinauf verschwand, während Vater und ich in die Küche gingen, um bei der Vorbereitung des Abendessens zu helfen. Da Mutter an diesem Abend aus Köln angereist war, wollte man sie mit einer besonders festlichen Mahlzeit begrüßen, zwei Schwestern meines Vaters hatten bereits den ganzen Nachmittag lang gekocht, und der älteste Bruder ging die Reihenfolge der Speisen noch einmal laut durch und gab den beiden jungen Kellnerinnen weitere Anweisungen. Daher herrschte in der Küche ein solches Gedränge, dass Vater mich bat, zu Mutter aufs Zimmer zu gehen, mir die Hände zu
Weitere Kostenlose Bücher