Die Erfindung des Lebens: Roman
irgendwann ab. Es handelte sich um eine sehr lange Reihe von Sätzen, und wahrscheinlich würde es tagelang dauern, bis ich mit ihr am Ende war. Doch ich beherrschte sie, ja, genau, schließlich hatte ich sie mir immer wieder im Stillen vorgesagt und unermüdlich ein Wort an das andere gefügt. Die Verwandten und die Feriengäste bewunderten meine Kladden, was würden sie erst sagen, wenn ich all die Worte und Sätze hintereinander aufsagen könnte, die ich in diese Kladden eingetragen hatte!
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JETZT IST es so weit, jetzt bin ich so weit. Ich bin jetzt in meiner Erzählung so weit, dass ich erzählen kann, wie ich den ersten Satz sprach und danach viele weitere Sätze. Dass und wie es dazu kam, ist beinahe eine eigene Geschichte, die mir noch heute unglaublich erscheint. Ich habe diese Geschichte bisher noch keinem anderen Menschen erzählt, niemand kennt sie, selbst meine Mutter und mein Vater, die längst gestorben sind, haben während ihres Lebens von ihr nichts erfahren.
Ich gebe diese Geschichte jetzt preis, und ich tue dies aus Gründen, die ich mir sehr genau überlegt habe. Diese Gründe jedoch tun im Augenblick nichts zur Sache, erst später werde ich vielleicht auf sie zurückkommen. Jetzt aber kommt es nur noch darauf an, die Geschichte meiner Sprachwerdung möglichst genau und vollständig zu erzählen. Und diese Geschichte vollzieht sich in genau drei Schritten.
Es begann damit, dass ich an einem frühen Abend noch einmal zu meinem See wollte, um dort in der letzten Abendsonne zu baden. Meist verschwand ich, wenn ich das tun wollte, für kaum mehr als eine halbe Stunde, ich lief durch das kleine Wäldchen hinunter zum Wasser, zog mich aus, schwamm einige Runden, ließ mich auf dem Rücken treiben, rieb mich mit den eigenen Kleidern trocken, zog sie wieder an und lief zurück.
Auch an diesem Abend war ich schnell unterwegs und glitt den Abhang zum Wasser sogar auf dem Hosenboden herunter. Dabei hörte ich einige Geräusche, die ich bisher noch nie in diesem Wäldchen gehört hatte. Ich bremste meine Talfahrt mit beiden Händen ab und schaute hinunter zum See, und was ich dort zu sehen bekam, ließ mich erstarren.
Unten, in dem von der Abendsonne erleuchteten See, sah ich meine Mutter, die gerade und aufrecht in der Mitte des Sees stand und sich kurz vor dem Abtauchen die Haare zusammenband. Als sie damit fertig war, kühlte sie ihren Oberkörper mit dem Seewasser ab, sie ließ es langsam über ihre Brust und den Rücken rieseln und sie wischte sich damit durchs Gesicht, dann ging sie kurz in die Hocke, so dass ihr gesamter Oberkörper für einen Moment unter Wasser war. Ich konnte sie ganz deutlich erkennen, und es war keine Frage, dass es sich um meine Mutter handelte, anscheinend war sie vor Kurzem auf dem Hof eingetroffen und gleich zu einem kurzen Bad hierher geeilt, ohne zu ahnen, dass auch ich diesen See beinahe jeden Abend für ein kurzes Bad aufsuchte.
Sie breitete die Arme weit aus und drehte sich in die Richtung der Abendsonne, dann aber tauchte sie mit dem Kopf voran ab, ich sah ihren nackten, lang gestreckten Körper genau, wie er seine Bahnen durch das weiche Grün des Sees zog, immer im Kreis. Nach einigen Schwimmbewegungen tauchte ihr Kopf wieder auf, und sie schwamm ruhig weiter, ich hörte sie durchatmen, zwei-, dreimal atmete sie kräftig aus und ein, dann aber hörte ich sie plötzlich singen, sehr leise, aber ganz deutlich, ich hörte sie singen.
Es war ein ganz einfacher, schlichter Gesang, es war ein Vorsichhinsingen und damit wirklich nichts Besonderes. Jedem anderen, der diese singende Frau vorher nicht gekannt und jetzt hier gehört hätte, wäre nichts an diesem Gesang aufgefallen, vielmehr hätte er diesen Gesang für den Gesang einer Frau gehalten, die sich in diesem See wohlfühlt, die Abendsonne genießt und mit sich und der Welt vollkommen im Reinen ist.
Ich jedoch sah und hörte nun etwas, das ich in meinem ganzen Leben noch nie gesehen und gehört hatte. Ich meine nicht die Nacktheit meiner Mutter, natürlich nicht, obwohl es auch stimmt, dass ich meine Mutter zuvor noch niemals nackt gesehen hatte. Ihre Nacktheit war es jedoch nicht, die mich in den Bann zog, es war vielmehr die Ruhe, ja die Freude, die sie plötzlich ausstrahlte und zu der das merkwürdige Singen so gut passte, das sich zudem noch so anhörte, als könne es in jedem Moment umkippen in ein leises Sprechen. Waren nicht auch deutlich Worte zu hören, oder irrte ich
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