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Die Erfindung des Lebens: Roman

Die Erfindung des Lebens: Roman

Titel: Die Erfindung des Lebens: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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erst vor Kurzem angekommen und gleich zum Schwimmen gelaufen, um sich vor dem Abendessen noch zu erfrischen.
     
    Ich setzte mich auf den Boden, neben das Bett, ich hielt mir die Augen zu und sagte ein zweites Mal: Gebt mal her! Ja, ich konnte mich hören, ja, ich konnte mich deutlich und gut verstehen! Noch einmal: Gebt mal her! Und immer wieder: Gebt mal her! Gebt mal her! …
    Heute bin ich ganz sicher, dass ich damals ohne die Erlebnisse, die meinem ersten Sprechen unmittelbar vorausgingen, noch nicht gesprochen hätte. Die Bilder von meiner im Abendlicht schwimmenden Mutter und die Bilder vom letzten Abendlicht in der eindunkelnden Gaststube gehören auf geheimnisvolle Weise zusammen und bilden so etwas wie eine magische Spur, der ich danach mein Leben lang gefolgt bin, ohne dass ich sie bis heute begriffen hätte.
    Viele einzelne Bausteine zur Lösung dieses Geheimnisses habe ich bisher gesammelt, und manchmal habe ich das Gefühl, ich wäre der Lösung dieses mich seither so stark beschäftigenden Rätsels sehr nahe. Was ist damals genau mit mir passiert? Warum entlockten mir die Bilder gerade dieses Abends die ersten Worte und warum verfolgten mich diese Bilder später ein Leben lang, so dass ich bis heute nicht von ihnen losgekommen bin?
     
    Jetzt kann ich es ja zugeben, ich schreibe all das hier auf, um genau diese Rätsel und ihre Folgen, die mein ganzes weiteres Leben geprägt haben, zu lösen. Schritt für Schritt will ich mein Leben noch einmal ergründen und jedem kleinen Wink nachgehen. Letztlich folge ich dabei nur einigen Lichtsequenzen in einem großen Dunkel. Aber ich befinde mich in Rom, der Stadt des Lichts und des römischen Blaus , und damit befinde ich mich in der besten Stadt, die ich mir für mein Vorhaben hätte aussuchen können.
     
    Es ist nun sehr still, ich habe bis weit nach Mitternacht geschrieben. Ich werde noch einmal hinausgehen, um mich zu beruhigen, aber ich ahne schon, dass mir das nicht gelingen wird. Mein Leben und meine Gefühle kreisen viel zu stark um die Bilder, von denen ich eben erzählt habe, als wäre in ihnen ein Zauber verborgen, den ich erst noch bannen muss, um die eigentliche Befreiung von den Schrecken meiner Kindheit zu erleben. Jedes Mal, wenn ich mich längere Zeit an diese Bilder erinnere und ihnen damit wieder näher komme, tue ich die seltsamsten und mir später oft nicht mehr verständlichen Dinge. Oft hat es mich große Mühe gekostet, diese Dinge wieder ins Lot zu bringen.
    Johannes, pass auf Dich auf!

22
     
    VON DEN ersten beiden Schritten meiner Sprachwerdung habe ich nun bereits erzählt, es fehlt aber noch die Erzählung vom dritten Schritt, von meinem ersten Sprechen im Kreise der anderen. Man könnte beinahe vermuten, dass sich dieser Schritt noch an demselben Abend ereignete. Und so war es denn auch. Deshalb setze ich dort wieder ein, wo ich meine Erzählung unterbrochen habe, ich befinde mich in dem Fremdenzimmer, in dem Vater und ich bisher übernachtet haben.
     
    In diesem Zimmer wartete ich nun auf Mutter, denn ich wusste ja, dass sie bald vom See kommen würde. Durch das Fenster konnte ich den Weg, der vom Wäldchen zur Gastwirtschaft führte, leicht überblicken, deshalb hielt ich nach ihr Ausschau, ungeduldig darauf, dass sie mich endlich begrüßen würde.
    Als ich sie aus dem Wäldchen heraustreten und auf den Hof zu eilen sah, beugte ich mich durch das geöffnete Fenster etwas nach vorn, um in das Licht der Laternen zu geraten, die das Gelände rund um den Gasthof bereits erleuchteten. Da bemerkte ich, dass Mutter mich aus der Ferne erkannte, jedenfalls blieb sie einen Augenblick stehen und begann zu winken, ich winkte heftig zurück, endlich hatten wir uns beide wieder im Blick.
    Es umgab sie jedoch etwas Fremdes, ja, das spürte ich sehr genau, und dieses Fremde wirkte wie eine leichte, irritierende Störung unserer früheren Zweisamkeit. Normalerweise wäre ich die Treppe so schnell wie ich konnte heruntergesprungen, um sie zu umarmen, jetzt aber ging ich die Treppe Schritt für Schritt hinab, als müsste ich mir erst überlegen, wie ich mich ihr nähern sollte.
     
    Als ich ihr unten in der inzwischen erleuchteten Ga-ststube begegnete, hatte ich dazu aber keinen Moment Zeit, denn Mutter packte mich fest, ja sie riss mich beinahe an sich und drehte sich dann mit mir auf der Stelle, so dass meine Beine hoch durch die Luft flogen. Was machte sie denn? Sie war vor lauter Freude ja außer sich!
    Sie schaute mich aber nicht richtig

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