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Die Erfindung des Lebens: Roman

Die Erfindung des Lebens: Roman

Titel: Die Erfindung des Lebens: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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Amalgam aus all den Farben, die die Römer auf ihren weiten Feldzügen gesehen haben.
     
    Römisches Blau … – wie komme ich jetzt auf diese Bezeichnung, warum denke ich über Himmelsblautöne nach, während ich von jenen für mich so bedeutsamen Tagen auf dem Land erzähle? Wahrscheinlich hängt es damit zusammen, dass Vater während unserer Wanderungen nicht nur zeichnete, sondern schließlich auch zu aquarellieren begann. Das Aquarellieren wurde nötig, als wir uns mit den Wolkenformationen am Himmel beschäftigten und Vater mit seinen Zeichnungen unzufrieden war. So geht das nicht! So geht es auf keinen Fall! – ich sehe ihn vor mir, wie er den Kopf schüttelt und die Bleistifte wieder einpackt und wenige Tage später den kleinen, im Dorf erstandenen Aquarellkasten auspackt und öffnet.
    Wolkenformationen nur mit Aquarellfarben! , bekam ich zu hören und dann erkannte ich, wie man die niedrig ziehenden Haufenwolken hintuscht, wie man sie von einem dichten Farbzentrum her angeht und von diesem Zentrum aus etwas ausfransen lässt, ein klein wenig, aber nicht zu viel, denn sie dürfen sich nicht zu langen Barken strecken, sondern müssen aussehen wie Mannschaften oder wie ein kleiner, auf Reisen gehender Trupp!
     
    So lerne ich auch das, ja, ich lerne, dass man beim Spaziergehen nicht nur die Erde auf alle Details hin beobachten sollte, sondern dass so etwas auch mit dem nur scheinbar immer gleichen Himmel möglich ist. Hat man eine gewisse Übung darin, den Himmel zu betrachten, versteht man das Wetter und kann sogar mit einigermaßen großer Sicherheit voraussagen, wie das Wetter am nächsten Tag wird. Man muss nur die Wolken studieren und sich umschauen, man muss den gesamten Horizont betrachten, rundum, zum Studium der Wolken und des Wetters ist es unbedingt notwendig, dass man sich mit erhobenem Kopf einmal im Kreis dreht, die Himmelsrichtungen fixiert, feststellt, woher der Wind weht, und aus all diesen Einzelbeobachtungen eine Prognose erstellt.
     
    Doch auf solche Prognosen kam es natürlich letztlich nicht an, Prognosen sind doch geschenkt! , sagte Vater, und ich deutete die mir unverständliche Bemerkung so, dass Prognose ein hässlich klingendes Wort sei, dass dieses Wort keine genauen Wolkenformationen bezeichne und dass es zu den Worten gehöre, die man sich nicht zu merken brauche und deshalb schenken könne. Prognose war also ein überflüssiges Wort, das Vater auch nicht aufschrieb, während er die Wolkenformationen durchaus aufschrieb, so dass ich neue Lieblingswörter erhielt, Wörter wie Zirruswolke, Türmchenwolke oder Quellwolke.
     
    Immer häufiger schauten mir nun am frühen Abend die Verwandten oder auch einige Feriengäste zu, wenn ich an meinem Gartentisch saß, um meine schwarzen Kladden zu füllen. Längst besaß ich von ihnen bereits mehrere, viele kleinere für die Eintragungen während des Wanderns, und einige große, wie schon gesagt, für die Reinschrift. Mit den Tagen hatte ich eine immer größere Sicherheit in diesen Eintragungen bekommen, ich verschrieb mich kaum noch, die Buchstaben waren gleich groß, und die Zeichnungen passten schließlich in ihrer jeweiligen Größe auch genau zu den Wörtern.
     
    Was vor den Augen meiner Mitleser entstand, war im Grunde eine kleine Enzyklopädie, ein Lexikon der näheren Umgebung, in dem festgehalten war, was Vater und ich beobachtet und meist auch in die Hand genommen hatten. Wenn ich die rechte Seite abdeckte und nur auf die Zeichnungen der linken Seite schaute, hatte ich die Worte genau vor Augen, Buchstabe für Buchstabe. Und wenn ich die Zeichnungen abdeckte und nur auf die Buchstaben schaute, wusste ich genau, wie die zu ihnen passenden Zeichnungen aussahen.
     
    So wuchsen die Bilder und die Schriftzeichen in meinem merkwürdigen Schädel immer enger zusammen und berührten einander, was nur noch fehlte, war der Klang und damit der letzte, entscheidende Schritt: Dass ich mich endgültig öffnete, dass ich die Welt nicht nur stumm in meinem Kopf sammelte, sondern sprechend an ihr teilnahm.
    Von Tag zu Tag spürte ich mehr, dass dieser Schritt unmittelbar bevorstand, ja dass es nur noch einer letzten Überwindung bedurfte. Alles, was sich an Worten und Sätzen seit Jahren wie tote Materie in mir angestaut hatte, musste ich vergessen, um von Neuem und frisch mit den Sätzen anzufangen, die ich von Vater gelernt und in Hunderten von Variationen im Kopf hatte.
    Manchmal wiederholte ich diese Varianten im Stillen und brach dann

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