Die Erfindung des Lebens: Roman
aus, beruhige Dich doch, wir sind ja wieder zusammen , das will sie mir anscheinend sagen, denn sie tut nichts, mich von den bunten Buchstaben zu befreien, sondern breitet sie wenig später auch noch auf dem Bett aus, während ich mit dem Rücken zu ihr am Fenster stehe und mich an das Fensterbrett klammere.
Ich will, dass diese bunten Buchstaben verschwinden, am liebsten würde ich sie sofort aus dem Fenster oder am besten gleich ins Feuer werfen, das aber geht natürlich nicht, denn diese Buchstaben sind Mutters Geschenk an ihren lieben und einzigen Sohn, mit dem sie doch eigentlich ein neues Leben beginnen wollte.
Ich versuche, mich zu beruhigen, ich schaue hinunter in den Garten und sehe, dass an diesem Abend wegen Mutters Ankunft auf dem Hof im Freien gedeckt wird, die Kellnerinnen sind schon beinahe mit dem Decken der langen Tafel fertig, ich aber habe nicht den geringsten Appetit, nein, der Appetit ist mir wirklich vergangen. Dann aber höre ich schon, dass Vater uns ruft, Johannes, Katharina! und noch einmal: Johannes, Katharina!
Da nimmt Mutter mich an der Hand und geht mit mir hinaus auf den Flur, ich gehe links von ihr, sie rechts, und als wir so nebeneinander die kleine Treppe hinabgehen, weiß ich auf einmal, was nun geschehen wird. Ich weiß es ganz genau, es ist nicht nur eine Ahnung, nein, ich weiß es wirklich, und bis heute ist mir unerklärlich, woher ich derart genau wissen konnte, was als Nächstes passieren würde.
Ich erkläre es mir so, dass ich unseren gemeinsamen Gang die Treppe hinab als den Beginn eines Auftritts erlebte. Mutter ist so seltsam festlich gekleidet, wie eine Künstlerin, wie eine Sängerin … – genau eine solche Vermutung ging mir wohl durch den Kopf, und als wir unten, in der leeren Gaststube, ankamen, wusste ich auch sofort, zu welchem Zweck sie sich so festlich gekleidet hatte: Mutter wollte Klavier spielen.
Die abendliche Tischgesellschaft hatte sich längst draußen im Garten versammelt. Einige Fackeln brannten und die Laternen warfen ein weiches, diffuses Licht, während die Fenster der Gaststube weit geöffnet standen, um die frische Abendluft einmal durch den Raum ziehen zu lassen. Mutter aber ging mit mir nicht nach draußen, sondern direkt auf das Klavier zu, auf dem ich an jedem Morgen gespielt hatte. Kurz überlegte ich, ob ich ihr nicht zuvorkommen und ihren Auftritt verhindern sollte, dann aber setzte ich mich auf ihren Wink hin an einen Tisch und beobachtete sie, wie sie den Deckel des Klaviers öffnete, die Finger ihrer beiden Hände für einen Moment auf die Tasten legte, sich noch einmal nach mir umschaute und zu spielen begann.
Sie begann sehr leise, ja sogar unglaublich leise, ihr Klavierspiel war wohl zunächst gar nicht draußen zu hören, dann aber setzte der konstante Rhythmus sich durch, es war ein Walzer-Rhythmus, das bekam ich sofort mit, Mutter spielte einen schmeichlerischen, sich langsam erst aufbauenden, dann aber immer schneller drehenden Walzer. Nach kaum einer Minute hatte ihr Spiel auch eine gewisse Lautstärke erreicht, jedenfalls näherten sich draußen einige Personen den Fenstern, um hineinzuschauen und zu sehen, wer dort gerade spielte, ich hörte das Flüstern, es ist Katharina, nein, das kann doch nicht sein, dochdoch, es ist Katharina, die spielt, aber ich bitte Dich, was redest Du denn, dochdoch, ich schwöre, es ist Katharina!
Dieses Flüstern wuchs immer mehr, draußen herrschte ein regelrechtes Stimmengewirr, einige konnten es noch immer nicht glauben, doch an den Fenstern waren jetzt kleine Trauben von Neugierigen aufgetaucht, die, sobald sie Mutter erkannten, ruhiger wurden und endlich ganz schwiegen. Niemand kam jedoch hinein in die Gaststube, niemand wagte sich dort einzufinden, selbst die jungen Kellnerinnen, die eben noch durch die Gaststube geeilt waren, um die letzten fehlenden Gläser nach draußen zu tragen, blieben im Eingang der Küche stehen und trauten sich nicht mehr, die Gaststube zu durchqueren.
Nur ein einziger Mensch kam schließlich von draußen herein, ich sah, wie der große Schatten sich im Laternenlicht der Tür näherte, es war mein Vater, mein Vater kam in die Stube und ging weiter bis zu meinem Tisch, und dann setzte er sich neben mich, während meine Mutter spielte, als habe sie ihn nicht bemerkt.
Damit also hatte sie sich die Zeit meiner Abwesenheit in Köln vertrieben! Sie hatte sich wieder ans Klavier gesetzt und anscheinend unermüdlich geübt, denn ihr Spiel war so
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