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Die Erfindung des Lebens: Roman

Die Erfindung des Lebens: Roman

Titel: Die Erfindung des Lebens: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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sicher und so gefestigt, als hätte sie in dieser Hinsicht nie eine Krise erlebt. Sie spielte sogar mit einer gewissen Brillanz, obwohl sie keine Virtuosenstücke ausgewählt hatte, sondern einen Walzer nach dem andern vortrug, es waren jedoch, wie dann auch rasch getuschelt wurde, Walzer von Frédéric Chopin, in denen es Passagen genug gab, die etwas durchaus Virtuoses hatten.
     
    Ich möchte an dieser Stelle meiner Erzählung kurz innehalten und zugeben, dass dieses abendliche Vorspiel meiner Mutter der Grund für eine kuriose Hassliebe wurde, die mich bis heute mit den Kompositionen Frédéric Chopins verbindet. Ich muss das an dieser Stelle erwähnen, weil diese Hassliebe in meinem Leben immer wieder eine große Rolle gespielt hat und später der Anlass sowohl für eigentlich überflüssige Katastrophen als auch für bestimmte Sternstunden war.
    Mein angespanntes Verhältnis zu den Kompositionen Chopins hatte zum einen damit zu tun, dass ich von Mutters Spiel hingerissen war wie noch von keinem andern zuvor. Ab und zu hatte ich auf Schallplatten große Pianisten spielen gehört, aber ich hatte noch nie einen spielen sehen. Mit Mutters Spiel erlebte ich daher zum ersten Mal live einen mir perfekt vorkommenden Auftritt, der die Verführungskraft der Musik inszenierte und sich dafür genau der richtigen Stücke bediente.
    Die Walzer Chopins nämlich hatten etwas außerordentlich Verführerisches, ja sie kokettierten geradezu mit der Verführung, indem sie sich von Walzern in Traumtänze und wieder zurück in Walzer verwandelten, aparte Läufe einstreuten und daher letztlich ein raffiniertes Spiel mit dem Walzer trieben, das auch all denen gefiel, die an klassische Musik nicht gewöhnt waren, wohl aber sofort erkannten, dass es sich offenbar um Walzer handelte.
     
    In Bewunderung dieses Raffinements und der Spielkunst meiner Mutter saß ich also mit offenem Mund da, ich liebte dieses Spiel, ich liebte es in diesem Moment über alles, und doch begann ich es von Minute zu Minute auch mehr und mehr zu hassen. Warum hatte Mutter mir nichts von ihrem Klavierüben verraten? Warum trat sie an diesem Abend unseres Wiedersehens so demonstrativ auf, als habe sie endlich Zeit gefunden, wieder ordentlich Klavier zu üben? Und warum spielte sie genau auf jenem Klavier derart perfekt, auf dem ich zuvor meine einsamen Übungen gemacht hatte?
    Während sie brillierte und weiter und weiter spielte, kam es mir so vor, als geriete mein wochenlanges Üben in Vergessenheit, ja als würde es vollkommen ausgelöscht. Nein, ich hatte in diesen Wochen nicht Kompositionen von Frédéric Chopin, sondern Stücke von Johann Sebastian Bach und Domenico Scarlatti gespielt, und diese Stücke hatten nicht im Geringsten an das verführerische Raffinement herangereicht, das die Stücke Chopins mit jedem Takt ausstrahlten. Gefragt, ob ich schon einmal Stücke von Chopin gespielt hätte, hätte ich sogar antworten müssen, dass dies bisher nicht der Fall gewesen sei, nein, verdammt, ich hatte noch nie Chopin gespielt, und wenn es in der Zukunft nach mir ginge, würde ich wohl auch nie Stücke von Chopin spielen, denn diese Stücke waren ein verführerisches und sich einschmeichelndes Träumer-und-Mitsummer-Gedudel , erfunden nur deshalb, um mit unlauteren Mitteln zu prunken.
     
    Träumer-und-Mitsummer-Gedudel – das war meine erste, vom Hass auf das Spiel meiner Mutter genährte Beleidigung, die nun den Kompositionen Chopins galt, und leider muss ich zugeben, dass ich mich in meinem weiteren Leben geradezu darin übertroffen habe, immer neue Beleidigungen der Kompositionen Chopins zu erfinden. Natürlich konnte der Komponist Frédéric Chopin nichts dafür, dass meine Mutter seine Stücke missbrauchte, um bei all ihren Zuhörerinnen und Zuhörern gut anzukommen, natürlich traf ihn an alledem nicht die geringste Schuld, es ging in der Beziehung zwischen Chopin und mir aber auch nicht um Gerechtigkeit und Anerkennung, sondern um etwas Emotionales, Diffuses: Ich konnte Chopins Musik nach einiger Zeit, so verführerisch sie auch immer sein mochte, nicht mehr ertragen und ausstehen, in meinen Ohren war sie gerade wegen ihres Raffinements unerträglich durchschaubar, ein Narkotikum, das ich am liebsten sofort verboten oder auf andere Weise ausgeschaltet hätte.
     
    Nun gut, lassen wir es vorerst dabei bewenden, von Chopins Kompositionen wird später noch ausführlicher die Rede sein …, wichtig ist im Augenblick nur, dass ich Chopin zu lieben und

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