Die Erfuellung
mit der Milch an, der neben Watson stand.
»Allerdings!«, bestätigte er. »Wenn Sie die Geschichte der Familie kennen würden, würden Ihnen die Haare zu Berge stehen. Da könnte man direkt ein Buch drüber schreiben, nur dass es keiner glauben würde.«
Linda brachte den Eimer in die Milchkammer. So war das also. Dass jemand im Suff das Land verspielt hatte, war Grund genug zur Bitterkeit.
Jetzt verstand sie ihren Arbeitgeber ein wenig besser. Aber offenbar war das gar nicht der wirkliche Grund für seine Verbitterung, wenn man Sep Watson glauben durfte. Die Neugier plagte sie. Wenn der Melker nur nicht solch ein unangenehmer Mensch gewesen wäre, sondern jemand, mit dem sie hätte reden können! Aber sie wusste bereits, dass sie es nie über sich bringen würde, ihn über ihren Arbeitgeber und dessen Familie auszufragen. Allerdings würde sie vor seinem Geplapper wohl kaum die Ohren verschließen können. So schweigsam, wie sich die Batleys gaben, mochte sie sonst leicht das nächste Jahr in ihrem Haus verbringen, ohne der Ursache für ihren tiefen Kummer auf die Spur zu kommen. Selbst Onkel Shane war bei all seiner Freundlichkeit bestimmt eher zurückhaltend, wenn es um Familiengeschichten ging, das hatte sie im Gefühl.
Kurz vor Feierabend erfuhr sie von Watson noch etwas über Michael. Der Junge war ihr fast den ganzen Nachmittag lang auf Schritt und Tritt gefolgt und erst von ihrer Seite gewichen, als seine Großmutter ihn ins Haus rief. Sep sah ihm von der Tür des Kuhstalls aus nach, wie er in der Dämmerung über den Hof lief.
»Der mag Sie aber«, meinte er bedeutungsvoll. »Ihm fehlt eine Mutter«, setzte er hinzu, als Linda nicht darauf einging. Dann lachte er tief, aber mit gedämpfter Stimme. »Nicht dass Sie der mütterliche Typ wären«, fuhr er leise fort. »Sie wissen schon, was ich meine. Sie sehen nicht so aus, als ob Sie für den Job hier geschaffen wären, obwohl Sie nicht dumm sind, das muss ich sagen.«
»Danke«, erwiderte Linda kalt, was ihn erneut zu einem leisen, tiefen Lachen veranlasste.
»Michael sucht nach einem Hafen im Sturm. Das ist wohl normal, jedes Kind sollte eine Mutter haben. Die Kleinen sind wie Tiere, von Zeit zu Zeit muss man sie ein wenig knuddeln. Nicht dass seine eigene Mutter der knuddelige Typ gewesen wäre.«
Er drehte sich um und sah sie an. Natürlich wusste er, dass er damit ihre Neugier geweckt hatte. Obwohl sie fest entschlossen gewesen war, ihn nie über ihren Arbeitgeber und seine Familie auszufragen, konnte sie einfach nicht widerstehen. »Ist sie tot?«, erkundigte sie sich.
»Tot? Nein, die ist quicklebendig. Sie kommt nach ihrem Vater, war schon immer sein Liebling, seit sie auf zwei Beinen stehen konnte. Dann hat sie sich mit Lance Cadwell eingelassen, dem mittleren der drei Söhne. Der alte Cadwell ist fast die Wände hochgegangen. Der hatte nämlich eine andere für Lance im Sinn, ein Mädchen mit Geld. Die Sache war von Anfang an hoffnungslos, und nach einem Jahr oder so waren sie schon wieder geschieden. Patricia hat wieder geheiratet, als das Kind sechs war, aber ihr neuer Ehemann mochte den Kleinen nicht. Und dann ist der Junge irgendwie krank geworden, was mit den Nerven, und sie haben ihn hergeschickt.« Er warf den Kopf zurück. »Sie haben keine Ahnung, was da alles los ist!« Bevor sie wusste, wie ihr geschah, hatte er ihr mit der Hand unter das Kinn gegriffen. »Das interessiert Sie, nicht wahr? Sie wissen noch nicht, woran Sie sind, stimmt’s? Irgendwann müssen wir uns mal zusammensetzen, und dann erzähle ich Ihnen die ganze Geschichte.«
Linda fuhr zurück. Sein quadratisches Gesicht wurde noch breiter, als er sie angrinste. »Eines weiß ich inzwischen jedenfalls über Sie …« Er legte eine Pause ein und sah ihr tief in die Augen. »Sie müssen noch viel lernen. Gute Nacht.«
Als er durch die Tür verschwand, lehnte Linda sich an die Wand und schloss die Augen. Sie war nicht dumm. Seine letzte Bemerkung hatte sich keineswegs auf ihre Kenntnisse der Landwirtschaft bezogen. Sie wusste genau, was er gemeint hatte, und es jagte ihr Angst ein. Der ganze Mann war ihr nicht geheuer. Was für ein Pech, dass ihr Arbeitskollege ausgerechnet ein Mann vom Schlage eines Sep Watson sein musste. »Was ist los?«
»Oh!« Sie löste sich mit einem Satz von der Wand.
»Geht es Ihnen nicht gut?« Ralph Batley stand keinen Meter von ihr entfernt und sah ihr besorgt ins Gesicht. Sie musste zweimal schlucken, bis sie antworten konnte. »Nein,
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