Die Erfuellung
und trat mit ihr auf den Heuboden hinaus.
»Michael darf nichts davon erfahren«, sagte er hastig mit leiser Stimme. »Er würde meiner Mutter davon erzählen. Können Sie ihn morgen Vormittag bei sich behalten?« Er legte eine Pause ein und schluckte. »Sie bleibt nur bis morgen.«
»Ich werde mein Bestes tun.«
»Linda.« Er hob die Hände, aber sie wich unmerklich zurück, und das spürte er und ließ sie wieder sinken. Als er sich abwandte und ins Atelier zurückging, schloss sie die Augen, bevor sie sich erneut über den Heuboden tastete.
Am nächsten Morgen brauchte Linda keinen Wecker. Am Vorabend war sie so müde gewesen, dass sie im Stehen eingeschlafen wäre, aber das war, bevor sie die Frau an der Tür zu Sarahs Stall entdeckt hatte. Wenn sie überhaupt geschlafen hatte, so waren es unruhige, von quälenden Gedanken heimgesuchte Stunden gewesen. Sie hatte so lange wach gelegen, dass sie genau wusste, um welche Zeit sich der Sturm gelegt hatte.
Wieder kam sie um fünf Uhr die Treppe herunter, aber diesmal begrüßte sie kein munteres Feuer. Keine Lampe brannte, kein Kessel zischte auf dem Herd. Nun, dann musste sie sich eben selbst darum kümmern. Während sie das tat, ging ihr das Gesicht der Frau nicht aus dem Sinn, das sie die ganze Nacht über verfolgt hatte. In aller Eile kochte sie eine Kanne Tee. Als sie in den ruhigen, aber eisigen Morgen hinaustrat, fühlte sie sich der Kälte gegenüber geradezu immun, doch der düsteren Vorahnung, die sie packte, als sie sich der Ateliertür näherte, war sie nicht gewachsen.
Um keine unangenehme Überraschung zu erleben, klopfte sie. Als keine Antwort kam, drückte sie die Klinke herunter. Auf der Couch vor ihr lag die Frau, Edith Cadwell. Für Linda war sie nur »die Frau«, nicht Edith. Keine Armeslänge von ihr entfernt hatte sich Ralph Batley in einem alten, wackeligen Sessel ausgestreckt. Beider Hände hingen herab, als wären sie Hand in Hand eingeschlafen. Es war ein Bild von schmerzlicher Intimität, die Linda mitten ins Herz traf.
Was hattest du denn gedacht?, fragte sie sich. Die Laterne war fast heruntergebrannt und würde bald ausgesehen, wenn sie nicht nachgefüllt wurde. Sie ging zu Batley, vermied es aber, ihn zu berühren.
»Mr Batley!«, rief sie scharf.
Er bewegte sich, schüttelte den Kopf und öffnete die Augen. Dann schloss er sie wieder, bevor er sie weit aufriss.
»Ich habe Ihnen Tee gebracht.«
»Was?«
Für einen Augenblick schien er nicht zu wissen, wo er war, doch kann kam er zu sich. »Oh! Vielen Dank!«
»Die Lampe braucht Öl, sonst ist sie bald aus.«
»Ja.« Er stand auf und streckte sich. Ohne sie anzusehen, nahm er ihr eine Tasse aus der Hand. »Können Sie hier bleiben, bis ich zurückkomme?«, fragte er, als er seinen Tee getrunken hatte. »Ich muss Öl holen und eine kurze Runde drehen. Ich beeile mich.«
»Vergessen Sie nicht, dass ich mich auch um Ihre Mutter und um Michael kümmern muss«, sagte sie, ohne ihn anzusehen.
Er antwortete nicht sofort, und als er es tat, war ihm seine Verärgerung deutlich anzumerken. »Ich werde es nicht vergessen. Tut mir Leid, dass ich Sie um diesen Gefallen bitten muss, aber wenn sie aufwacht und niemand da ist …« Er legte eine Pause ein. »Sie ist einem Nervenzusammenbruch nahe und hat große Angst.«
Anstelle einer Antwort hob sie nur die Augenbrauen und ließ sich an seiner Stelle in dem Sessel nieder.
Als er fort war, sah sie sich im Zimmer um. Es hätte gut und gerne aus einem Gespensterfilm stammen können. Von den Balken hingen Spinnweben. Auf einer Bank, die die gesamte Länge einer Wand einnahm, schienen drei von einem Leintuch bedeckte Schädel zu liegen, zwischen denen ebenfalls Spinnweben hingen. Der Boden war mit feinem Staub bedeckt. Das einzige Möbelstück außer Couch, Sessel und Bank war ein Bücherschrank, an dem die Kleidungsstücke hingen, die sie der Frau in der Nacht zuvor ausgezogen hatte. In einer Ecke hinten im Raum stapelten sich Holzklötze, Felsbrocken und Leinwände, die allesamt von dicken Spinnweben überzogen waren.
Kaum hatte sie sich den Raum genauer angesehen, da kehrte Ralph Batley auch schon mit dem Öl zurück. Als er die Laterne aufgefüllt hatte, brannte sie so hell, dass der Schmutz noch mehr ins Auge stach. Ohne ein Wort oder einen Blick für Linda, verließ er den Raum. Die Art, wie er die Frau auf dem Sofa ansah, war ihr nicht entgangen.
Die Fremde war für sie einfach nur eine Frau gewesen, aber als Linda nun das
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