Die Erfuellung
erwiderte Linda gelassen und gleichgültig.
»Das wissen Sie? Wer hat Ihnen davon erzählt?«
»Solche Dinge sprechen sich herum. Wenn es sonst keine Unterhaltung gibt, tratschen die Leute gerne.«
Die Antwort gefiel Edith Cadwell offenbar nicht. Zum ersten Mal wirkte ihr blasses, schmales Gesicht verärgert. Der Groll musste tief sitzen, denn sie sprach kein weiteres Wort mehr mit Linda, bis diese das Atelier verlassen hatte.
Als Linda später am Küchentisch stand und das Abendessen zubereitete, fühlte sie sich so müde und ausgelaugt, dass sie fast im Stehen eingeschlafen wäre. Sie schwor sich, sofort nach dem Abwasch ins Bett zu gehen, egal, was geschah. Den Lauf der Ereignisse konnte sie ohnehin nicht ändern, und ihr fielen ständig die Augen zu.
Dann hörte sie Onkel Shane im Hof nach seinem Neffen rufen. Gleich darauf flog die Küchentür auf, und der alte Mann stand außer Atem vor Linda.
»Wo ist er?«, rief er außer Atem. »Hast du ihn gesehen?«
»Ja, er ist gerade zu Mrs Batley gegangen.«
Onkel Shane stützte sich mit beiden Händen auf den Tisch. »Hol ihn bitte!«, keuchte er. »Lass dir einen Vorwand einfallen, sag, du hättest mich rufen hören.« Er nickte brüsk. »Stimmt ja auch. Beeil dich.«
Verwirrt lief Linda durch die Halle ins Krankenzimmer, wo Ralph Batley am Bett seiner Mutter stand.
»Onkel Shane braucht Sie kurz, Mr Batley«, sagte sie ohne einzutreten. »Ich glaube, es geht um eine der Kühe.«
Als er kurz darauf in die Küche kam, sah Ralph Batley verwundert von seinem Onkel zu Linda. Shane ließ ihn gar nicht erst zu Wort kommen.
»Hier treibt sich ein Fremder herum, ich habe ihn an der Treppe zum Atelier gesehen. Weißt du, dass man durch den Spalt unter der Tür das Licht sehen kann? Zuerst dachte, du wärst es, aber als ich hingehen wollte, lief der Mann weg. Ich vermute, er hat sich in die Scheune geflüchtet, aber ohne Licht konnte ich ihm nicht folgen, und ich wollte mir auch nicht gern den Schädel einschlagen lassen. Habe ich es dir nicht gesagt? Ich wusste, dass so etwas passiert.«
Ralph Batleys Gesicht war aschfahl geworden, und seine Augen hatten sich verdüstert. Als er eine abrupte Bewegung in Richtung des Eckschranks machte, hielt Onkel Shane ihn auf. »Nicht, Junge! Keine Feuerwaffen!«
Batley zögerte einen Augenblick, bevor er, von Shane gefolgt, nach draußen ging.
Linda starrte auf die geschlossene Tür. Selbstverständlich hatte Onkel Shane Recht. Aber wenn nun der andere Mann bewaffnet war und schoss? Ein Klingeln riss sie aus ihren Gedanken: das Telefon. Seit sie im Haus lebte, war es der erste Anruf. In den ersten drei Tagen nach ihrer Ankunft war die Leitung gestört gewesen, aber auch danach hatte sie es nie klingeln hören. Sie lief in die Halle und zu einem dunklen kleinen Zimmer unter der Treppe, das Ralph Batley als Büro diente. Der Apparat war leicht zu finden, doch als sie sich meldete, kam keine Antwort. »Hallo«, wiederholte sie. Am anderen Ende der Leitung atmete jemand vernehmlich.
»Ich möchte Mr Batley sprechen«, sagte eine Frauenstimme, die ihr nicht unbekannt war.
»Es tut mir Leid, er ist nicht da.«
»Ist er auf dem Hof?«
»Ja, er ist nur nach draußen gegangen.«
»Können Sie ihm etwas ausrichten?« Eine kurze Pause folgte. »Es ist wichtig. Er soll mich anrufen … Ich bin Mrs Cadwell.«
»Ja, ich sage es ihm, Mrs Cadwell.«
»Können Sie ihn bitte gleich suchen gehen?«
»Natürlich, ich bin schon unterwegs.«
»Danke.« Ein Klicken in der Leitung verriet ihr, dass die Verbindung unterbrochen worden war. Langsam legte Linda auf.
Als sie wieder in die Halle kam, stürzte Michael aus dem Zimmer seiner Großmutter. »Wer war am Telefon? Großmama will wissen, wer angerufen hat.«
»Jemand hat sich verwählt. Irgendwer wollte die Schule in Morpeth sprechen.« Die Lüge kam ihr mit beunruhigender Gewandtheit über die Lippen. Die Situation hatte sich derart zugespitzt, dass sie ständig einen Schritt vorausdenken musste, um Mrs Batleys Ängste zu besänftigen oder, besser gesagt, um sie und den Jungen hinters Licht zu führen. Der Gedanke gefiel ihr nicht, und als Michael loslief, um seiner Großmutter die Nachricht zu überbringen, verschwand Linda eilig in der Küche. Sie hatte nicht die geringste Lust, nach draußen zu gehen und den Eindringling zu stellen. Die Konfrontation mit Sep Watson hatte ihr einen gehörigen Schrecken eingejagt, und sie fühlte sich einer erneuten Begegnung mit ihm nicht gewachsen.
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