Die Erfuellung
blasse, schöne Gesicht betrachtete, sah sie, wie jung sie war. Ihre Intuition sagte ihr, dass sie unter anderen Umständen viele Menschen in ihren Bann geschlagen hätte. Bei diesem Gedanken wurde sie sich ihrer Reithosen und ihrer groben Jacke bewusst. Sie kam sich linkisch vor. Ihr ganzes Selbstvertrauen war wie weggeblasen. In diesem Augenblick öffneten sich die braunen Augen und sahen sie erstaunt an.
»Ich … ich habe Sie schon einmal gesehen.« Die Stimme klang leise und weich und wirkte ebenso träumerisch wie die Augen.
»Ja, letzte Nacht«, erwiderte Linda nüchtern.
Die Fremde drehte langsam den Kopf auf dem Kissen. »Ich fühle mich müde … so müde.« Dann sah sie erneut Linda an. »Ralph … wo ist Ralph?«
»Er kümmert sich um die Farm.«
»Wie heißen Sie?«
»Linda Metcalfe.«
»Sie … Sie sind …« Sie holte tief Atem und rutschte ein wenig höher. Es dauerte einen Augenblick, bevor sie weitersprach. »Machen Sie hier Urlaub?«
»Nein, ich arbeite hier. Ich mache ein Praktikum.«
Die blutleeren Lippen wiederholten Lindas Worte, aber es kam kein Laut. Die Frau drehte sich zur Seite und sah Linda an. »Wissen Sie, wer ich bin?«
»Ja, ich weiß, wer Sie sind.«
»Oh!« Das Erstaunen in den braunen Augen wurde noch größer. Dann sah sich die Fremde im Atelier um. »Ich habe diesen Raum einmal gut gekannt.«
Linda erstarrte innerlich.
»Wenn wir doch nur in die Zukunft sehen könnten, wenn wir doch nur wüssten, was geschehen wird.« Die großen Augen ruhten für eine Weile auf Lindas Gesicht. »Sie sind sehr jung«, stellte die Frau fest.
»Wahrscheinlich nicht viel jünger als Sie.«
»Ich werde nie wieder jung sein. Ich bin alt, uralt.« Dabei fasste sie mit der Hand nach ihrem Haar. »Ich sehe bestimmt furchtbar aus«, setzte sie müde hinzu. »Hatte ich nicht eine Tasche mit? Ich weiß es gar nicht mehr.«
»Hier steht eine Tasche.« Linda ging zur Bank, holte die Ledertasche und brachte sie zum Sofa. Die Fremde nahm einen Kamm heraus, aber dann schien ihr die Anstrengung zu viel zu werden, denn sie ließ die langen Hände auf die Decke sinken und lehnte sich zurück.
»Ich bin schwächer, als ich dachte. Aber es ist nur die Müdigkeit, das geht vorbei.«
»Geben Sie mir den Kamm.«
Dann stand Linda hinter dem Sofa und kämmte das wirre Haar, wie sie es für jeden Kranken getan hätte. Als sie die letzte der dicken, kastanienbraunen Strähnen zur Schulter hin ausgekämmt hatte, wo sie sich in einer natürlichen Welle nach innen drehten, öffnete sich die Tür, und Ralph Batley kam mit einem Tablett herein. In Linda stieg Ärger auf. Er hatte sie gebeten zu bleiben, bis er seine Runde gedreht hatte, hatte aber Zeit gefunden, ein schmackhaftes Frühstück für den Neuankömmling zu bereiten. Auf den ersten Blick konnte sie sehen, dass sie selbst es nicht besser gemacht hätte.
Sie reichte Edith Cadwell den Kamm.
»Danke, das war sehr lieb von Ihnen.«
Linda antwortete nicht, sondern griff nur nach ihrer Jacke und verließ den Raum. Aber sie war noch nicht an den Kisten vorbei, als Ralph Batley ihren Namen rief. Sie blieb stehen, drehte sich jedoch nicht um.
»Ich muss mit Ihnen reden, nicht jetzt, sondern später«, sagte er hastig mit leiser Stimme. »Ich muss Ihnen die Situation erklären.«
»Mir müssen Sie gar nichts erklären, aber wenn Sie die Sache vor Michael geheim halten wollen, sollten Sie keine Tabletts herumtragen.«
»Tabletts?« Er sah sie durchbohrend an. »Mehr Tabletts wird es nicht geben. Und Michael ist noch gar nicht auf.«
Sie zog die Brauen hoch und warf den Kopf leicht zur Seite, ohne ihn aus den Augen zu lassen. »Nur dies hier? Glauben Sie das wirklich?«
Als er den Blick abwandte und sich auf die Lippe biss, ging sie davon, bevor es um ihre Beherrschung geschehen war.
Im Wirtschaftshof war es noch dunkel, doch am klaren Himmel funkelten die Sterne. Für einen Augenblick sah sie nach oben, dann wandte sie sich ab und lief auf den kleinen Stall zu. Drinnen war es stockdunkel, aber obwohl sie nicht sprach, wurden weder Sarah noch das Kalb unruhig. Sie tastete sich zu dem Pfosten zwischen den beiden Boxen, presste den Kopf dagegen und umklammerte ihn mit den Händen. Ihre Kehle war wie zugeschnürt, und in ihren Augen brannten die Tränen, denen sie nun freien Lauf ließ, damit der entsetzliche Druck ihr nicht länger den Atem nahm. Sie weinte lautlos, und als es vorüber war, tastete sie sich zur Box und setzte sich auf den Boden. In der
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