Die Ernte
einem Personalausweis.
»Ralph«, brüllte Sylvester und hob den Arm, um ihn an der Schulter zu berühren.
Ralph Bumgarner war so dumm wie ein Laternenpfahl, aber selbst er sollte wissen, dass man nicht in einer braunen Raulederjacke im Wald herumstolpert. Noch dazu mit einem weißen Wollkragen. Ist wahrscheinlich so voll wie eine Strandhaubitze.
»Ich hätte dich beinahe erschossen, du Vollidiot«, sagte Sylvester und seine Worte blieben ihm fast im Hals stecken.
Weil sich Ralph jetzt umgedreht hatte.
Weil Ralphs Augen grün leuchteten, so grün wie Zitronenwackelpudding, aber das Grün leuchtete, als ob eine Coleman-Campinglanterne im Inneren seines Schädels brannte.
Weil Ralphs Gesicht aschfahl war, bleich und tot, und das Fleisch seines Gesichts gegen seine Haut drückte wie weißer Schlamm in einem Toppits-Gefrierbeutel.
Weil Ralph nun seine Hände auf Sylvesters Schultern gelegt hatte und ihn zu sich herzog und Sylvesters Beine sich nun auch wie Wackelpudding anfühlten und weil er nicht davonlaufen konnte.
Weil Ralph seinen Mund zu einem feuchten Kuss öffnete und Sylvester wusste, dass da mehr dahintersteckte als homosexuelle Gefühle.
Weil Ralphs Atem, der aus den Untiefen seines schwarzen Rachens zu kommen schien, faul und madig roch und ein Vorzeichen für einen Zungenkuss war, der hundertmal ranziger zu werden versprach, als die Küsse der Huren in Titusville.
Weil Ralphs Zunge jetzt in seinem Hals steckte, glatt und glitschig wie eine Nacktschnecke, aber trotzdem schuppig wie die Haut einer toten Forelle, und weil ein Schwall von kaltem Schleim in Sylvesters Kehle strömte.
Weil dieser Schleim ihn veränderte, seine Zellen teilte und wieder zusammenfügte, ihn auseinander nahm und seinen Stoffwechsel veränderte.
Weil Sylvester das Gefühl hatte, dass er starb und gleichzeitig dachte, dass das einfache Sterben die beste Sache wäre, die ihm jetzt passieren könnte.
Weil er jetzt tot war.
Und bereit auf die Jagd zu gehen.
VIERTES KAPITEL
James Washington Wallace rollte aus dem Bett und dehnte sich langsam wie eine rostige Feder.
Sein Körper, der stattliche 190 Zentimeter maß, hatte schon wieder den Kampf mit der um fünfzehn Zentimeter zu kleinen Matratze verloren. Die Sonne, die bereits hoch am Himmel stand, brannte durch die Vorhänge. Er zog sich an und sah nach seiner Tante. Sie saß vor dem Fernseher.
Oprah Winfrey plauderte gerade mit Richard Simmons. Richard trug einen Anzug mit Krawatte und nicht so wie sonst sein pastellfarbenes Trägerhemd zu mintgrünen Shorts. Das Publikum war verunsichert und erstaunlich leise. Es wusste noch nicht, was es mit seinem neuen, smarten Image anfangen sollte. Ganz offensichtlich war ihnen der verschwitzte, lebhafte Aerobics-Guru, den sie kennen und lieben gelernt hatten, lieber.
»Wie geht´s dir heute, Tante Mayzie?«, fragte James und rieb sich seinen Nacken.
»Mir geht´s gut, Schatz.« Ihre Stimme war weich und angenehm altmodisch, eine Stimme, die Probleme aus der Welt räumen konnte. »Heute fühle ich mich nicht so schwach wie sonst und ich habe schon Haferflocken und eine Banane gefrühstückt.«
»Warum hast du nicht mich das Frühstück machen lassen?«
»Weil ich nicht warten wollte, bis ich nur mehr Haut und Knochen bin. Ich habe mir gedacht, du schläfst so tief und fest, dass dich nicht einmal die Trompeten von Jericho wecken könnten.«
James schaute seine Tante Mayzie ein wenig dümmlich an. Sie hatte ihr rechtes Bein, beziehungsweise der Stumpf, der davon noch unter ihrem Knie übrig war, auf einen Plastikhocker gelegt. Eine Krücke lehnte am Tisch neben ihrem Lehnstuhl. Ihre leere Frühstücksschüssel mit eingetrockneten Resten von Haferflocken am Rand stand auf dem Sofa. In ihren zerknitterten Händen hielt sie eine Kaffeetasse.
»Den hast du hoffentlich nicht gezuckert, oder?«, sagte James.
»Nein, Herr Oberaufseher. Du und Dr. Wheatley, ihr geht schon auf Nummer sicher, dass mir alle Freuden auf dieser Welt versagt bleiben.«
»Aber ich wette, dass es kein koffeinfreier Kaffee war.«
»Ich brauche das Koffein, damit mein altes Herz am Morgen auf Touren kommt. Das schadet nicht. Außerdem, wenn es mich umbringt, dann tötet es mich langsam, und bis dahin bin ich schon längst an etwas anderem gestorben.«
James dachte, dass die langsamen, schleichenden Gefahren die schlimmsten waren. So wie der Rassismus, der die Leute langsam vergiftete. Gefährlich war nicht der weiße Bauerntölpel, dem einige
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