Die Ernte
könntest.«
»Georgetown hat gestern gespielt, Tante Mayzie. Ich muss schon meine alte Uni unterstützen. Warum hast du überhaupt einen Arzttermin? Stimmt etwas nicht?«
»Nur eine Kontrolluntersuchung. Auf jeden Fall ist der Termin um drei Uhr am Nachmittag und ich weiß, dass du da arbeiten musst. Und ich will nicht, dass du dich wegen mir von der Arbeit entschuldigen lassen musst. Ich habe mich dreißig Jahre lang um mich selbst gekümmert und ich hoffe, dass ich das noch ein paar Jahre lang tun kann, wenn Gott mir gnädig ist.«
Natürlich, aber in diesen Jahren hattest du zwei Beine und ein starkes Herz. Und du kannst nicht meinen Honda benützen, weil du nie den Führerschein gemacht hast. Warst schon immer ein Geher. Eine Meile zur Fabrik, eine halbe Meile zum Laden, zwei Meilen in die Kirche. Drei Meilen zur Greyhound-Station, um einmal im Jahr die restliche Familie zu besuchen. Hast tausende Meilen mit diesen schwarzen Beinen, von denen jetzt nur mehr eines da ist, zurückgelegt.
»Ich bestell dir dann eben ein Taxi.« James legte die Hände auf seine Hüften. Er fühlte, dass es unmöglich war, diese Frau zu überreden.
»Ich fahre sicher keinen Meter mit diesem Idioten Maynard. Hat eine Flasche Alkohol unter dem Fahrersitz und einen Betonziegel auf dem Gaspedal. Nein, nein, es schadet mir nicht, wenn ich mich ein bisschen bewege.«
James stellte sich vor, wie Tante Mayzie auf ihrer Krücke den Gehweg entlang gehen würde, mit dem lila Veloursmantel, den ihr James zu Weihnachten gekauft hatte, und einem leuchtend roten Schal, den sie unter dem Kinn verknotete. Sie würde den Weißen zunicken und ab und zu stehenbleiben, um ihre Achseln auszuruhen. Dabei würde sie jenes unterwürfige Lächeln tragen, das sich über die Jahre in ihr Gesicht gemeißelt hatte.
»Es ist ja nur ein paar Straßen weit, James. Mach dir nur keine Sorgen um mich. Geh, du kommst sonst zu spät zu deiner Arbeit.«
James warf einen Blick auf seine Timex. Er musste rennen und er hasste es zu schwitzen. Die Hitze vom Grillofen war schon schlimm genug. Er musste cool bleiben. Nicht so wie einer von diesen Gangsta-Typen, die in den Rap-Videos zuhauf vorkamen. Nein, er musste so cool sein wie Frederick Douglass und George Washington Carver und Colin Powell.
»Bist du dir sicher, dass du es schaffst?«, fragte James mit gerunzelten Augenbrauen.
»Noch bin ich nicht hilflos, James, auch wenn du mich am liebsten so sehen würdest.«
Sie konzentrierte sich wieder auf Oprah. James warf einen Blick auf die Mattscheibe. Sie war das beste Beispiel für eine Schwarze, die wusste, wie man Geld wie Heu machen konnte. Oprah war über alle Rassengrenzen hinweg berühmt geworden, obwohl sie einen furchtbaren Literaturgeschmack hatte. Man würde sie nie als Nigger bezeichnen, genauso wenig wie Bill Cosby oder Michael Jordan.
Man musste nur reich und berühmt sein und schon wurde man von allen respektiert. Nun, bei seinem Hungerlohn, den er bekam, würde er erst ungefähr in siebenhundert Jahren respektiert werden.
Er beugte sich nieder und küsste Tante Mayzie auf die Wange. »Ruf mich an, wenn du irgendetwas brauchst.«
»Das würde dem alten Buddy aber nicht gefallen. "Ich bezahl´ dich nicht fürs Telefonieren"«, knurrte sie mit verstellter Stimme, die den Tonfall von Buddy nachahmen sollte. Ihr Lachen brachte die ausgebleichte Tapete an den Wänden zum Flattern.
James konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Seine Art, sich um alles Sorgen zu machen, grenzte schon fast an Paranoia. Die Sonne schien und die Vögel balzten, der Frühling war schon zum Greifen nahe und Tante Mayzie war nicht so leicht unterzukriegen. Und Georgetown war eine Runde weiter. Das Leben in einer weißen Stadt war gar nicht so schlecht.
Er drehte sich an der Tür noch einmal um: »Pass auf, wenn du zum Arzt gehst, Tante Mayzie.« »Ja, ja. Bis später.«
James trat in die Sonne, den leichten Wind und die weißen Augen von Windshake.
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»Wo ist Sylvester?«
»Woher soll ich das wissen?« Peggy Mull hielt den Telefonhörer von ihrem Gesicht weg, damit sie an ihrer Zigarette ziehen konnte. Den Rauch blies sie mit einem langen Seufzen wieder aus. »Bryson hat schon angerufen und gefragt, wie es ihm geht und ob er vielleicht heute Nachmittag wieder in die Arbeit kommen könnte. Er fehlt dort schon seit zwei Tagen.«
»Hast du eine Ahnung, wo er sein könnte?«
»Wahrscheinlich streichelt er irgendwo im Wald sein Gewehr. Ich habe ihnen auf jeden
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