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Die Ernte

Die Ernte

Titel: Die Ernte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scott Nicholson
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Steaks schneiden. Es würde sterben ohne zu wissen, dass es überhaupt gejagt wurde.
    Sylvesters Nacken begann zu kribbeln und an seinem Haaransatz begann er zu schwitzen. Es war aber kein Angstschweiß. Sylvester war voll konzentriert. Die Jagd war der Hauptgrund, warum er jeden Morgen aus dem Bett stieg. Seine Droge, seine Religion. Er konnte töten.
    Sylvester war zu einfach gestrickt, als dass er zu verstehen versuchte, warum er aus der Jagd eine so große Befriedigung erlangte. Ein Anthropologe hätte es vielleicht einem primitiven Überlebenstrieb zugeschrieben, der sich nach all den tausenden Jahren noch immer in unseren Genen herumtrieb.  Ein Psychologe hätte vielleicht entschieden, dass Sylvester damit versuchte, gegen eine übermächtige Vaterfigur anzukämpfen. Jemand aus der Moose Lodge würde sagen, dass töten sogar lustiger war, als in einem Lift zu furzen.
    Aber Sylvester waren diese Spekulationen völlig gleichgültig. Für ihn war es eine einfache Gleichung: der Jäger gegen den Gejagten.
    Er drückte den Gewehrkolben gegen seine Wange und entsicherte sein Gewehr. Die Sicherung, jahrelang mit Hingabe geölt, ließ sich leicht betätigen. Sylvester zielte mit dem Gewehrlauf auf das kleine Sichtfenster, das ihm sein Unterstand bot, und visierte genau den Punkt an, zu dem die Schritte zu führen schienen.  Er versuchte verhalten zu atmen, um das Getöse, das das Blut in seinen Ohren erzeugte, zum Verstummen zu bringen und um seine Hand zu stabilisieren.
    Er erkannte eine leichte Bewegung durch den Regen, ein Lorbeerzweig erzitterte und Sylvester krümmte seinen Finger am Abzug.  Er wusste genau, wie weit er den Abzug drücken konnte, bevor der Hahn auf die Patrone aufschlagen würde, und es fehlte nicht mehr viel. Dann sahen seine Augen etwas Braunes, ein Rotbraun, das sich deutlich von den abgefallenen Blättern und Baumstämmen abhob. Er spannte den Hahn noch ein bisschen weiter.
    Noch ein Schritt, zeig mir das weiße Fell deiner Brust und du bist schneller in meiner Gefriertruhe als du denken kannst.
    Und plötzlich machte das Tier einen Schritt in die Lichtung. Sylvester überwand gerade den letzten Widerstand des Abzuges, als er sah, dass es kein Rehbock war, der durch das Unterholz brach.
    In der gleichen Millisekunde, die Sylvester wie ein paar Minuten vorkam, stieß er mit der linken Hand den Gewehrlauf nach oben, während der Knall des Schusses seine Ohren betäubte. Wie in Zeitlupe konnte Sylvester die Vorgänge um sich herum wahrnehmen: der widerlich scharfe Geruch von Schießpulver; der leichte Schlag des Gewehrkolbens gegen seine Schulter, ähnlich wie der Tritt eines jungen Esels; das plötzliche Verschwinden des Pulvernebels, so als hätte ihn jemand mit einem übergroßen Staubsauger weggesaugt; das singende Geräusch der Kugel, die durch die Baumkronen über ihm pfiff und ein Stück aus dem Himmel schnitt, bevor sie sich ein paar hundert Meter weiter weg in die Bergflanke grub.
    Er begann wieder am Haaransatz zu schwitzen, aber diesmal war es Angstschweiß. Beinahe hätte er jemanden erschossen.
    Er lehnte seine Waffe gegen seinen Unterstand und schaute auf die Figur, die da zwischen den Bäumen taumelte.  Wer auch immer das war, er schien den Schuss gar nicht gehört zu haben. Sylvesters Hände zitterten. Er schaute auf seine Hände, so als ob sie jemandem anderen gehörten.
    Er trat aus seinem Versteck hervor und blickte den Felsgrat hinunter. Die Figur stolperte und fiel zu Boden.
    Verdammte Scheiße. Ich hab den Hurensohn doch nicht erschossen?
    Vor Panik schossen ihm Tränen in die Augen, aber er blinzelte sie schnell weg. Er rannte zu dem auf dem Boden liegenden Fleischhaufen, sprang den Berggrat hinunter und rutschte auf den verrotteten Blättern aus.  Er würde in den Knast kommen, soviel war sicher. Er würde nie mehr eine Jagdlizenz bekommen. Vielleicht dürfte er sich nie mehr in der Moose Lodge sehen lassen.
    Die zusammengesunkene Form erhob sich langsam, wackelig auf den Beinen, aber zumindest am Leben. »Gelobt sei Gott«, murmelte Sylvester in den nassgrauen Himmel. Ihm war es egal, ob da oben jemand war, der ihn hören würde oder nicht.
    Er sah, dass er beinahe einen Mann erschossen hatte, einen kleinen Mann, dessen nasse Haare strähnig herabhingen. Er hatte Sylvester den Rücken zugedreht, aber er kam ihm bekannt vor. Diese eckigen Ohren, die unter einer roten Baseballkappe hervorstanden, ließen keinen Zweifel zu und waren so aussagekräftig wie ein Foto auf

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