Die erregte Republik
entscheidende Position im politischen Prozess übernehmen. Von einer Kolonisierung der Politik durch das Mediensystem kann in einem beschreibenden Sinne dann gesprochen werden, wenn die dem Mediensystem eigentümlichen Regeln auf das politische System übergreifen und dessen eigentümliche Regeln dominieren oder gar außer Kraft setzen.« 37
In der Beschleunigungsfalle
Voll entwickelte Mediengesellschaften zeichnen sich durch eine Reihe von Charakteristika aus. Hierzu gehört an erster Stelle die quantitative Ausbreitung der Medien. Waren 1983, |65| unmittelbar vor dem Start des Privatfernsehens, in der Bundesrepublik lediglich drei Fernsehsender (sowie an manchen Orten das Fernsehen der DDR oder des Österreichischen Rundfunks) zu empfangen, sind es heute durchschnittlich 37. Die Gesamtzahl der Fernsehkanäle in Deutschland hat sich sogar auf über sechzig erhöht. Der gleiche Trend zeigt sich bei den Radiosendern, aber auch bei den Printmedien: Allein in den letzten zehn Jahren ist die Anzahl der angebotenen Zeitschriftentitel um über fünfzig Prozent gestiegen. Heute konkurrieren mehr als 850 Zeitschriften und nahezu 400 Tages-, Wochen- und Sonntagszeitungen um die Gunst der Leser. Aufmerksamkeit wird unter diesen Bedingungen ein flüchtiges Gut. Neben die traditionellen Print- und Funkmedien sind zudem die digitalen Online-Medien getreten, die klassische Massenkommunikation wird durch neue Medien wie SMS, Twitter und soziale Netzwerke wie Facebook ergänzt und wächst mit diesen zusammen. Die tägliche Dauer der Mediennutzung wird länger, die Medien beanspruchen immer mehr Platz im öffentlichen Raum und sind beinahe überall präsent: als Wirtschafts-TV in Bank- und Postfilialen, als Musiksender in den Fitness-Studios, als Gratis-Postillen in Shopping-Centern, als Bildschirm-Zeitungen in der U-Bahn und als Großleinwände an innerstädtischen Orten. Zu den einstmals dominanten Massenmedien haben sich immer mehr Spartenmedien gesellt. Der einheitliche Kommunikationsraum einer Gesellschaft, den in der Vergangenheit einige Fernsehsender, Radioprogramme und Zeitungen organisierten, löst sich auf. Gleichzeitig durchdringen die Medien immer engmaschiger alle gesellschaftlichen Sektoren. Auch Bereiche, die früher nicht medienvermittelt funktionierten, werden nun über Medien organisiert, (etwa die private Kontaktpflege in und durch soziale Netzwerke wie Facebook oder StudiVZ).
|66| Die Geschwindigkeit der Informationsverbreitung und die Informationsdichte nehmen immer mehr zu. Während die einmal täglich erscheinenden Tageszeitungen früher für viele Menschen die primäre Informationsquelle waren, aktualisieren Nachrichtenportale wie
Spiegel Online
ihr Angebot mittlerweile im Minutentakt. Durch die zentrale Rolle der Medien als Informationsmittler und Ermöglicher sozialer Kontakte erlangen sie selbst verstärkte gesamtgesellschaftliche Aufmerksamkeit und werden zu diskussionswürdigen Themen: Apples iPad und die digitale Vertriebsstrategie für iApps waren monatelang Medienthema, Wikileaks schafft es auf die Titelblätter von Magazinen und Zeitungen rund um den Globus und wenn Apple-Gründer Steve Jobs ernsthaft erkrankt, fürchten Feuilletonisten um die Zukunft unserer Kommunikationskultur. Ein Grund hierfür ist, dass die Medien im »Kulturkapitalismus« (Jeremy Rifkin), in dem mehr und mehr immaterielle Waren wie Filme, Songs oder Computerspiele konsumiert werden und auch die klassisch industriell hergestellten Produkte wie Autos oder Textilien einen immer höheren kommunikativen Gehalt in Gestalt von Markenimages, Produktwerbung und Marketing aufweisen, zu einem zentralen Bereich der Wirtschaft geworden sind. Dies verhilft ihnen zu gewachsener Macht, denn gegenüber der Politik agieren sie nun nicht mehr nur als publizistische Kritiker, sondern auch als Lobbyisten ihrer eigenen wirtschaftlichen Interessen.
Gleichzeitig durchlaufen die Medien einen Prozess der Ökonomisierung, der vor allem durch die Zunahme von Profit- und Renditedenken in den Chefetagen der Medienhäuser geprägt ist. So erhalten die Chefredakteure von
Bild
und
Bild am Sonntag
ihre jährliche Tantieme nicht mehr analog zur Auflagen-, sondern zur Renditeentwicklung ihrer Blätter. Dies führt zu einer stärkeren Orientierung der Medien auf ihre |67| eigentliche Einnahmequelle – Anzeigen und Vertriebserlöse – und verstärkt ihre Tendenz, sich vom politischen System und dessen Funktionsweise zu emanzipieren. Die Medien betrachten ihre
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