Die erregte Republik
Leser und Zuschauer also immer weniger als Staatsbürger mit spezifischen Informationsbedürfnissen und immer mehr als Kunden, deren Wünsche nach Unterhaltung und Zerstreuung zu befriedigen sind, um ihnen auf dieser Grundlage zielgruppengerecht Produkte und Dienstleistungen verkaufen zu können.
Ein weiterer Grund für die zunehmend zentrale Rolle der Medien liegt darin, dass der Journalismus inzwischen einen Teil der intellektuellen Deutungsmacht übernommen hat, die noch vor einigen Jahren bei einflussreichen Intellektuellen, Wissenschaftlern und auch einigen Berufspolitikern wie Peter Glotz, Heiner Geißler oder Kurt Biedenkopf lag. Die Zuständigkeit für Welt- und Zukunftsdeutungen geht also immer mehr auf den Journalismus über und korrespondiert mit dem Bedeutungsverlust, den Sozialwissenschaften und Philosophie in den letzten Jahren in Deutschland durchlaufen haben. Diese Entwicklung beeinflusst nicht nur die Rolle und Organisation der Medien, sondern auch die Selbstwahrnehmung und soziale Verortung der Journalisten. »Wenn tonangebende Journalisten und andere Medienleute je eine ›Gegenelite‹ gebildet haben«, so der Publizist und Kommunikationswissenschaftler Lutz Hachmeister, »dann muss man nach den gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Mechanismen fragen, die aus dieser Klasse einen integrierten Teil des spätbürgerlichen Establishments haben werden lassen, der sich in seiner Weltsicht von den Wirtschaftseliten kaum noch unterscheidet.« 38 Eine Antwort darauf liegt im vergrößerten ökonomischen Gewicht der Medien- und Kommunikationsindustrie, eine andere in der Ökonomisierung der Medienproduktion |68| und den zunehmend ausgeklügelten Geschäftsmodellen, die dieser zugrunde liegen. Vor allem aber: Mehr und mehr Prozesse in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik sind medienvermittelt, nicht nur
zwischen
, sondern auch
innerhalb
der Sektoren, Institutionen und Organisationen der Gesellschaft. Medien schieben sich als nur pseudo-neutrale Mittlerinstanzen in alle gesellschaftlichen Bereiche und penetrieren dort den Kommunikationsfluss, etwa wenn ein Parteivorsitzender erst aus den Medien erfährt, dass ihm erhebliche Teile seiner Parlamentsfraktion nicht folgen wollen, oder Kontroversen zwischen Personen initiiert werden, indem der eine Politiker von Journalisten mit dem Zitat eines anderen konfrontiert wird, seinerseits eine Stellungnahme abgibt und es dann heißt: »Richtungsstreit in Partei XY« – wovon die beiden vor Erscheinen des entsprechenden Beitrags gar nichts wussten. Mit den genauen Aussagen sind die Journalisten dabei nicht immer pingelig. So wurde im Frühjahr 2010 der damalige Bundesgesundheitsminister Philipp Rösler landauf, landab mit der Drohung zitiert, wenn die CSU seinem Konzept der Kopfpauschale in der Krankenversicherung nicht zustimme, werde er zurücktreten. Tatsächlich hatte Rösler nur gesagt: »Wenn es mir nicht gelingt, ein vernünftiges Gesundheitssystem auf den Weg zu bringen, dann wird mich als Gesundheitsminister keiner mehr haben wollen.« Die Medien nahmen diese – von einer Rücktrittsdrohung weit entfernte – Aussage zum Anlass, um erneut einen Koalitionskrach in der schwarz-gelben Regierung zu konstruieren.
Da man nie genau weiß, was Presse, Rundfunk und Online-Medien zutage fördern, beginnt der Arbeitstag in Parteien und großen Unternehmen in der Regel nicht mehr mit der Sichtung der internen Korrespondenz, sondern mit der Lektüre von Pressemeldungen. Bevor sich Mitglieder einer Organisation |69| innerhalb ihrer Institution über neue Entwicklungen informieren, nehmen sie also zuerst die in den Medien gespiegelte Außenwahrnehmung auf. Medien werden so mehr und mehr zur Voraussetzung für das Funktionieren von Politik und Wirtschaft, formen aber gleichzeitig die Wahrnehmung der Realität innerhalb dieser Sektoren: »Ohne Medien gibt es keine anhaltende, stabile Kommunikation zwischen den Akteuren wie auch zwischen Akteuren und den Bürgern. So ist die politische Öffentlichkeit in modernen Gesellschaften hinsichtlich ihrer Struktur, der Inhalte und der Prozesse weitgehend medial beeinflusst«, stellt der Schweizer Kommunikationswissenschaftler Otfried Jarren fest. 39 Diese Bedeutungszunahme von Medienkommunikation verändert auch die Struktur und Arbeitsweise all jener gesellschaftlichen Bereiche, die der Medialisierung ausgesetzt sind. Sie orientieren ihre Handlungslogik zunehmend an den besonderen Bedürfnissen und Anforderungen der
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