Die erregte Republik
umgekehrter Perspektive gefragt – mit welchem Wahrhaftigkeitsanspruch begegnen Politiker den Medien? Versuchen sie, diese durch Inszenierungen einzulullen, oder gibt es wirklich noch einen ernsthaften Begründungs- und Vermittlungsimperativ gegenüber der Öffentlichkeit, der das Handeln von Politikern prägt?
|107| Krieg ohne Kampf
Diese Frage war 2005 keineswegs neu. Schon in den Nachwehen des Bundestagswahlkampfs 1976, in dem Helmut Schmidt die Regierungsmehrheit gegen seinen Herausforderer Helmut Kohl äußerst knapp verteidigt hatte, überraschte die Meinungsforscherin Elisabeth Noelle-Neumann die Öffentlichkeit mit ihrer These eines »doppelten Meinungsklimas«, das für den Erfolg der regierenden Koalition den Ausschlag gegeben habe: Während die Bevölkerung mehrheitlich die CDU/CSU favorisiert habe, seien es vor allem die Redakteure in den angeblich linksliberal dominierten öffentlich-rechtlichen Rundfunkhäusern gewesen, welche der amtierenden Regierung Schmidt die Treue gehalten hätten. Dadurch sei ein doppeltes Meinungsklima entstanden, eine Mehrheit der öffentlichen Meinung gegen die elitäre Minderheit der veröffentlichten Meinung. Die dialektische Volte von Noelle-Neumanns Theorie, die als »Schweigespirale« weltweit berühmt werden sollte: Da die schweigende Mehrheit mit ihren bürgerlich-konservativen Präferenzen aufgrund der verzerrten Medienöffentlichkeit, in der ein linkes Meinungsklima dominant war, sich nicht selbst als Mehrheit begreifen konnte und die Medien in ihrer Berichterstattung gegenüber dem Einzelnen den Anschein erweckten, er stehe mit seiner politischen Meinung allein, wurden Wähler in großen Scharen SPD oder FDP zugetrieben, um der Gefahr einer sozialen Isolation im Freundes- oder Bekanntenkreis zu entgehen. Die Medien waren also nach Noelle-Neumanns Lesart zu aktiven Wahlhelfern der regierenden Koalition geworden, da sie das gesellschaftliche Meinungsklima einseitig und entgegen der Bevölkerungsmeinung zugunsten von SPD und FDP geprägt hatten. 72
An dieser Theorie ist vieles fragwürdig. So erscheint es beileibe |108| nicht erwiesen, dass die Angst von Menschen vor sozialer Isolation Einfluss auf ihre geheimen Entscheidungen in der Wahlkabine hat; die Rechtsextremismusforschung etwa kommt hier zu dem genau gegenteiligen Befund, dass viele Rechtsradikale ihre Gesinnung zwar nicht öffentlich preisgeben, aber heimlich in der Wahlkabine das Kreuz doch bei einer extremistischen Partei machen. Auch ließ Noelle-Neumanns Szenario offen, warum Kohl trotz der gegen ihn gerichteten Medienmacht beinahe fünfzig Prozent der abgegebenen Stimmen erzielte. Trotz dieser Ungereimtheiten wurde Noelle-Neumans Theorie ein sozialwissenschaftlicher und politischer Bestseller. Sie bildete bis 1982 die (freilich demokratiekompatible) Dolchstoßlegende, mit der erklärt werden konnte, warum Kohl 1976 gescheitert war. Und sie entfaltete politische Wirkung, als die Konservativen kurz nach ihrem Regierungsantritt das Privatfernsehen einführten und den öffentlich-rechtlichen Rundfunk personell aufmischten, um die »Meinungsvielfalt« wiederherzustellen.
Der Wahlkampf 2005 geriet für die SPD zu einer ähnlichen Dolchstoßlegende. Bis heute gibt es zwei verschiedene Lesarten der damaligen Ereignisse: Die eine vertreten viele Sozialdemokraten, einige Grüne und ein Teil der kritischen Sozialwissenschaft. Sie besagt, dass es auch im Wahlkampf 2005 ein doppeltes Meinungsklima gegeben habe. Demzufolge hätten große Teile der neoliberalen Medien der amtierenden Bundesregierung schon im Jahr 2004 jede Form von Fairness in der Berichterstattung aufgekündigt. Den Wahlkampf 2005 hätte die SPD gegen ein Medienlager bestreiten müssen, das einseitig auf einen Sieg von CDU und FDP gesetzt und die Regierung systematisch niedergeschrieben hätte. Die Akteure auf Regierungsseite hätten keine Chance mehr gehabt, in dieser Medienkonstellation mit Sachargumenten durchzudringen. Die Wahl |109| sei als entschieden dargestellt worden, bevor der heiße Wahlkampf überhaupt eröffnet war. Für diese Lesart gibt es Belege. Prononciert trat im Wahlkampf 2005 zum Beispiel der einflussreiche
stern
-Kolumnist Hans-Ulrich Jörges hervor, der in seinen Artikeln alle Schwächen Merkels in Stärken umdeutete und dem Wähler beim Ankreuzen des Stimmzettels quasi direkt die Hand führte. Das klang dann so: »Denn die Deutschen wählen den Wechsel, nicht den Kumpel. Weil sie Interesse daran haben, ökonomisch und
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