Die erregte Republik
Sozialstaat. Diese Form von puristischer Reformpolitik deckte sich mit dem Selbstverständnis vieler Medienmacher, welche die komplizierten Aushandlungsmechanismen der vermeintlich blockierten Republik endlich durch eine Politik der klaren Kante ersetzen wollten. Letztlich aber bot diese Perspektive nichts als eine zynische Sicht der politischen Welt und der in ihr agierenden Politiker: »den Blick auf eine Arena, in der Ehrgeizlinge ohne jede Überzeugung Manöver durchführen, bei denen sie sich von konkurrenzbedingten Interessen leiten lassen«, wie der französische Soziologe Pierre Bourdieu notierte. 110
|144| Eine herausgehobene Stellung in diesem Geflecht nahm und nimmt die »Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft« (INSM) ein. Laut Selbstdarstellung ist sie »eine überparteiliche Reformbewegung von Bürgern, Unternehmen und Verbänden für mehr Wettbewerb und Arbeitsplätze in Deutschland«, in Wahrheit eine seit dem Jahr 2000 vom Arbeitgeberverband Gesamtmetall üppig finanzierte Lobby-Agentur neuen Typs. Ihre Aufgabe besteht darin, den Gedanken einer reformierten, das heißt von Regulierungen und wohlfahrtsstaatlichem Ballast weitgehend befreiten, Marktwirtschaft zu popularisieren. Dies tat und tut die INSM auf allen Ebenen: mit höchst tendenziösen Grafiken und Statistiken, die oft unkommentiert Eingang in die Berichterstattung auch seriöser Zeitungen finden, mit Studien, Lexika und Auszeichnungen. Die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft hat sich über die Jahre weit bis in die populären, scheinbar unpolitischen Lebenswelten vorgearbeitet. So hat sie sich schon im Jahr 2003 an den Kosten einer
ARD
-Doku mentation des Autors Günter Ederer beteiligt. Der Dreiteiler
Das Märchen vom gerechten Staat,
der sich mit Steuern, Renten und dem Arbeitsmarkt befasste, passte ihr so gut ins Konzept, dass sie durch den Kauf der Videorechte die dritte Folge ermöglichte. 111 Bereits ein Jahr zuvor hatte sich die INSM für 58 670 Euro ins Drehbuch der
ARD
-Seifenoper
Marienhof
eingekauft, wo auch folgerichtig die »hohen Lohnzusatzkosten« gegeißelt wurden und der »schlanke Staat« gepriesen. 112 Anfang 2007, als die deutsche EU-Ratspräsidentschaft vor der Tür stand, lancierte sie eine Anzeige in Zeitungen und Zeitschriften, die ihr Reformverständnis auf den Punkt brachte:
»Unser Vorschlag für die Hymne der deutschen EU-Ratspräsidentschaft: Eine Ode an das Wachstum (nach der Melodie von Freude, schöner Götterfunken):
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Wachs-tum, schö-ner Wohlstands-fun-ken, Si-che-rung für Alt und jung / Was in Deutschland jetzt gut läuft, das gibt auch ganz Eu-ro-pa Schwung. Mit der Wirt-schaft geht es vor-wärts, die Ge-sell-schaft pro-fi-tiert, wenn durch mehr Re-for-men Wachs-tum end-lich wie-der funktio-niert.»
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Die Möglichkeit, dass Deutschland gar nicht so verkrustet und rückwärtsgewandt war, wie die Großmeister der Dauerkrisenerzählung ab der Jahrtausendwende behaupteten, geriet unter diesem Trommelfeuer beinahe in Vergessenheit. Dass das Land trotz aller vermeintlichen Reformstaus lange Exportweltmeister war, dass der deutsche Maschinen- und Anlagenbau weltweit führend war und ist, dass es immer wieder Aufschwünge gab, die auch neue Jobs schufen – all dies zählte plötzlich nicht mehr und musste einer Niedergangs- und Krisenerzählung Platz machen, die nach einer radikalen Reform an Haupt und Gliedern verlangte. Das Herbeireden von einschneidenden Reformen wurde so seit den 1990er-Jahren zum Mantra eines zunehmend von sozialen Realitäten abgekoppelten und von differenzierten politischen Positionen entkleideten Journalismus.
»It’s the economy, stupid«
Rückblickend betrachtet war das neue Weltbild dieses Mainstream-Journalismus zumindest bis zur großen Krise 2008/09 recht einfach gestrickt und lässt sich in einem berühmten Satz des ehemaligen US-Präsidenten Bill Clinton zusammenfassen: »It’s the economy, stupid« – nichts zählt außer der Wirtschaft. Diese wurde ab den 1990er-Jahren zum Maßstab aller Dinge, zum leuchtenden Gegenbild einer schwächlichen und handlungsunfähigen Politik. Damit einher ging eine merkwürdig |146| unkritische Betrachtung der Wirtschaftseliten. Später grandios gescheiterte Manager wie Thomas Middelhoff und Ron Sommer wurden zu Stars, denen ein popkultureller Ikonenstatus und gleichzeitig ein politisches Urteilsvermögen wie Spitzenpolitikern zugerechnet wurden. Am deutlichsten wurde dieses Urvertrauen in die Ökonomie am
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