Die erregte Republik
Beispiel des eigentümlichen Aufstiegs von Sabine Christiansen, die Ende der 1990er-Jahre zur
grande dame
des deutschen Journalismus avancierte. Schon kurz nach ihrem Start 1998, also zeitgleich mit dem Beginn der Berliner Republik, galt
Christiansen
als die Politiksendung im deutschen Fernsehen schlechthin, die bald nicht nur zahlreiche Imitatoren fand, sondern auch andere politische TV-Formate, allen voran die klassischen Politikmagazine, auf schlechtere Sendeplätze verdrängte oder in ihrer Wirkung marginalisierte. Christiansens Talkshow geriet zum Tribunal der Deregulierung, huldigte unkritisch den Konzernen und forderte die Deutschen als
ceterum censeo
dazu auf, sich endlich der Globalisierung zu stellen. Das Politische ging darüber freilich verloren. Das Besondere an Sabine Christiansen war, stellte der
F.A.Z.
-Medienkritiker Michael Hanfeld fest, dass sie »als durch und durch unpolitische Person mit ihrem fehlenden Erkenntnisinteresse perfekt zu den medienfixierten Jahren der rot-grünen Koalition passte, zugleich aber einen neoliberalen Diskurs geprägt hat, der zum Grundrauschen der Republik geworden ist«. 114 Für Lutz Hachmeister war die
Christiansen -Talk show
im Grunde »Unternehmensberater-Fernsehen, in dem sich Experten und Interessenvertreter um den Zustand der Wirtschaftsrepublik Gedanken machten, und damit war ›Sabine Christiansen‹ in den Schröder-Jahren anschlussfähig, als der Berater-Jargon von McKinsey, Boston Consulting und Roland Berger zur offiziellen Politiksprache in Deutschland wurde. Keine andere Fernsehsendung mit ähnlicher Reichweite |147| hat den Bürgern die bekannte Sentenz von Walter Rathenau, die Wirtschaft sei das Schicksal, so beharrlich verdeutlicht wie ›Sabine Christiansen‹.« 115
Eine derartige Ökonomisierung der öffentlichen Debatte konnte nicht ohne Wirkung auf die Politik bleiben. Wo 25 Jahre zuvor von Auschwitz und Ostpolitik die Rede war und 15 Jahre zuvor Atomtod und Pershing 2 die Gemüter erregten, zogen nun neue Begriffe ein. »Weil sie Wörter wie ›Innovation‹ und ›Deregulierung‹ benutzen«, urteilten Franz Walter und Tobias Dürr im Jahr 2000, »halten sich politische Eliten in Deutschland für besonders ›zukunftsfähig‹. Doch gerade deshalb sind sie es nicht. Denn wo ›alle Ideen blamiert‹ sind und ›alle Utopien zersetzt‹ (Karl Mannheim), hat die Zukunft ihre Verheißung verloren.« 116 Aber Wahlen ließen sich so gewinnen, wie die SPD 1998 mit einem genialen Schachzug demonstrierte. Niemals seit der »Willy wählen«-Kampagne von 1972 war ein sozialdemokratischer Wahlkampf so erfolgreich wie der »Innovation und Gerechtigkeit«-Doppelklang der SPD von 1998. Gerhard Schröder holte damals den IT-Unternehmer Jost Stollmann in sein Schattenkabinett, der zwar die Spielregeln des politischen Betriebs überhaupt nicht verstand, die SPD nach sechzehn Jahren in der Opposition aber selbst ein bisschen wie ein erfolgreiches Start-up-Unternehmen aussehen ließ. Auch wenn Stollmann am Ende nicht in ein sozialdemokratisch geführtes Kabinett eintrat, weil der gewiefte Oskar Lafontaine den politisch völlig naiven Unternehmer bei der Frage des Ressortzuschnitts ausmanövrierte: Der Triumph am Abend des 27. September 1998 hätte für die SPD kaum größer sein können.
Wie wenig reflektiert diese Vergötzung der Wirtschaft war, wurde spätestens in der Finanzkrise 2008/09 deutlich, in der die Medien sich mehrheitlich als völlig unfähig erwiesen, angemessen zu erklären, wie sich die riesige Spekulationsblase |148| über so viele Jahre hinweg unbemerkt aufbauen konnte. Der Herdentrieb der Wirtschaftspresse, die unisono verkündet hatte, die Zukunft der Wertschöpfung liege nicht mehr in der Industrie, sondern in Finanzgeschäften, kam jedenfalls genauso wenig zur Sprache wie das jahrelange Deregulierungstrommelfeuer der führenden Medien. Nun war es Zeit für Katzenjammer. »Wir haben den Bankern geglaubt, als sie sagten, Derivate würden die Welt sicherer machen, weil sie das Risiko verteilen«, gestand Daniel Bögler, Managing Editor der
Financial Times Deutschland
. Leider hätten seine Redakteure die komplexen Zusammenhänge »nicht wirklich verstanden«. 117 Da die Verquickung der Medien in den moralischen und ökonomischen Abgrund der Spekulationsblase offensichtlich war, wurde Ruhe in der Krise zur ersten Journalistenpflicht. Banker, Politiker und Wirtschaftsjournalisten gingen im Herbst 2008 eine Art Schweigekartell ein, verzichteten
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