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Die erregte Republik

Die erregte Republik

Titel: Die erregte Republik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thymian Bussemer
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Sonntag als Studiogäste umwirbt, gerade letzten Sonntag in Grund und Boden polemisiert hat. Dies führt zu merkwürdigen Ungleichzeitigkeiten: Talkshows huldigen mitunter Politikern, deren Politik sie fundamental kritisieren. Vor diesem Hintergrund muss man sich fragen, ob die Politik gut beraten war, das Fernsehen zum eigentlichen Austragungsort politischer Auseinandersetzungen zu machen. Wenn Peer Steinbrück urteilt, dass das »Desinteresse am Parlamentarismus auch damit zu tun hat, dass die Politik den Ort ihrer Bestimmung verlassen hat«, kann dies durchaus wortwörtlich verstanden werden. 157
    Politikerleben
    Warum ist die Talkshow-Fixierung der Politiker so ungebrochen, wenn doch eigentlich klar ist, dass diese das Ansehen der Politik eher untergraben als befördern? Die eine Antwort liegt |183| darin, dass das Fernsehen für jeden Politiker ein funktionales Karrierevehikel ist. Die zweite Antwort lautet, dass die Politik hofft, durch Fernsehauftritte jene Barrieren zu überwinden, welche die Medien zwischen der Politik und dem Zugang zur breiten Öffentlichkeit errichtet haben. Eine der Hauptfähigkeiten von Politikern besteht deswegen in der Antizipation der Medienaufmerksamkeit, also einer Vorwegnahme der vermuteten Reaktion der Medien auf ein politisches Angebot durch eine bestimmte Form der Inszenierung, durch die Orientierung an den als relevant erachteten Nachrichtenfaktoren und den Gebrauch von Symbolen, die für die Medien Aussagekraft haben. Die Politik dringt so zwar zum Publikum durch, gerät aber regelmäßig in Versuchung, mit überzogener Inszenierung, mit personalisierten Homestory-Angeboten oder mit »Politainment« 158 auf die vermutete Nachfrage zu reagieren. Manchen Politikern ist dabei jedes Mittel recht. Auf den FDP-Politiker Jürgen Möllemann geht die Feststellung zurück, dass Ansehen und Aufsehen zwei Seiten derselben Medaille seien. Die Folge ist, dass ein neuer Typus des Politikers durch den Umweg über das Fernsehen die politischen Parteien erobert. »Als Hoffnungsträger der politischen Szene gelten gemeinhin die jungen, schnellen Smarties der Mediengesellschaft, die am Morgen schon ihr drittes Interview mit flotten Sprüchen schräg zur offiziellen Parteilinie abgesondert haben, wenn die Kollegen noch beim Frühstück sitzen« 159 , urteilt Jürgen Leinemann. Entsprechend groß ist der Einfluss der Medien auf die Auswahl des politischen Personals. Eine vom damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker eingesetzte Expertenkommission kam schon 1994 in einem Bericht zu dem Schluss, von den Politikern verlange der Fernsehauftritt »vor allem darstellerische Qualitäten, die in keinem notwendigen Zusammenhang zu politischen Leistungen stehen, aber über den politischen Erfolg entscheiden, |184| denn als erfolgreich gilt der Politiker mit den darstellerischen Fähigkeiten auch dann, wenn seine politischen Leistungen deutlich dahinter zurückbleiben«. 160 Politiker, die über die richtigen Anlagen für den telegenen Auftritt verfügen, werden heutzutage systematisch aufgebaut. Klaus Kocks, als selbsternanntes »brain to hire« das
enfant terrible
der Beraterszene, erläuterte in einem Gespräch mit Hamburger Journalistikstudenten sein Patentrezept für die Schaffung medienaffiner Politiker: »Man muss eine relativ komplexe Persönlichkeit in ein Rollenkonzept überführen. Dieses Rollenkonzept muss einfach, klar und erinnerbar sein. Und es muss tradierten, in unserer Kultur verwurzelten Rollenkonzepten entsprechen.« Letztlich gehe es um »fiktionale Glaubwürdigkeit«, um die Frage, wie gut ein Politiker auf öffentlicher Bühne die einmal gewählte Rolle ausfülle. »Da kann er authentisch oder weniger authentisch spielen. Authentizität ist eine bestimmte Art der Inszenierung, auf die wir mit der Zubilligung von Vertrauen reagieren.« 161
    Politiker werden so mehr und mehr zu Politik-Schauspielern, die für jede Rolle, die sie einnehmen, das passende Inszenierungsmuster parat haben. Bildschirmpräsenz gerät so im Lauf der Zeit zur
raison d’être
jedes Politikerlebens – und damit zum Substitut für das reale Leben. Politiker beziehen ihr Selbstbewusstsein, ihren inneren Antrieb und auch ihre Bereitschaft, die Widrigkeiten des Politikerlebens zu dulden, immer stärker aus ihrer Medienpräsenz. Damit wird das Licht der Öffentlichkeit zur Droge, der die überwiegende Mehrheit von ihnen verfallen ist. Herausgehobene Medienpräsenz ersetzt im unüberschaubaren Dickicht des

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