Die erregte Republik
waren. Von da ab war Müntefering keine drei Monate mehr im Amt. Nicht immer verlaufen Zu- und Abwendungen so drastisch, oft halten sich Hingezogenheit und Abstoßung über eine lange Zeit die Waage, bis ein endgültiges Urteil gefällt ist. Der
Spiegel
-Journa list Jürgen Leinemann, der wohl die bedeutendsten politischen Porträts des bundesdeutschen Journalismus geschrieben hat, schildert in seinen Erinnerungen eine Szene vom Wahlkampfauftakt der Union 1994 in der Dortmunder Westfalenhalle, die deutlich macht, wie empfänglich selbst gestandene Journalisten für die Nähe zur Macht sind. Leinemann berichtet: »Der Bundeskanzler schob sich durch ein Spalier von Jublern und Fans zur Tribüne. Eine inszenierte Prozession. (…) ›Helmut! Helmut!‹, brüllten sie neben mir. Ich stand am Rande der Gasse, die Ordner offen hielten, sah den Kanzler gewaltig heranquellen und wahllos links und rechts nach Händen greifen, die sich ihm entgegenstreckten. Er schwitzte. Nackter Triumph verklärte sein Gesicht – das war es, wofür er sich quälte. Die Erregung stieg, je näher Kohl kam. Nur nicht verwechselt werden mit den Jublern um mich herum. Erstens sowieso nicht, zweitens war ich hier als professioneller Beobachter. Ich verhakte meine |176| Arme vor der Brust, stützte mit dem linken Arm den rechten und mit dem das Kinn. Doch dann – Helmut Kohl war fast vorbei – langte er noch einmal nach rechts aus, grapschte an allen ihm zustrebenden Händen vorbei nach mir, zerrte meine Hand unter dem Kinn weg und schüttelte sie. Ich erstarrte. Blickte in das feixende Gesicht von Finanzminister Theo Waigel: ›Helmut!‹, rief der, ›das war doch der Leinemann vom Spiegel.‹ Da drehte der Kanzler sich um, sah mich an und spottete: ›Das weiß ich doch. Der soll anständige Geschichten schreiben.‹ Fort war er, während Waigel sich amüsierte: ›Hast du gesehen, wie der erschrocken war?‹ So war es. Erschrocken. Aber irgendwie war ich geschmeichelt. Und darüber erst recht erschrocken. Selten hatte ich Reize und Gefahren der Bonner Kumpanei zwischen Politikern und Journalisten so intensiv empfunden wie in diesem Augenblick. Einerseits – das wäre ja noch schöner, wenn ich nach fast zwanzig Jahren Bonn-Berichterstattung einfach zu übersehen wäre. Andererseits – war ich nicht die Hamburger Feindpresse? Ich fühlte mich durch Auszeichnung gezeichnet.« 153
In dieser von Leinemann berichteten Episode findet sich die Hin- und Hergerissenheit in allen Facetten wieder, mit der Journalisten Spitzenpolitikern gegenübertreten. Auf der einen Seite sind sie für Zeichen von Nähe und Vertraulichkeit hoch empfänglich, auf der anderen haben sie ein Bewusstsein dafür, eigentlich auf die andere Seite der Macht zu gehören. Zudem: Auch wenn sich Journalisten und Politiker scheinbar auf Augenhöhe begegnen, lässt sich von Waffengleichheit in den seltensten Fällen sprechen. Ein Spitzenpolitiker hat einen Wahlkreis, eine politische Strömung der er sich zurechnet, enge Vertraute, die er als Mitarbeiter beschäftigt, zahlreiche Ehrenämter und überhaupt ein Netzwerk, das ihn trägt. Journalisten dagegen sind Solitäre. Sie werden nicht vom Volk gewählt, sondern |177| von einem Verlag eingestellt. Ihre Macht stützt sich nur auf ihre eigenen Fähigkeiten und das Renommee ihres Mediums. In ihrer täglichen Praxis sind sie auf Austausch (und auch auf mitunter fragwürdige Deals) mit Politikern angewiesen. In ihrem Selbstverständnis müssen sie dagegen ihre Unabhängigkeit im Urteil hochhalten. Das erzeugt nur schwer auflösbare kognitive Dissonanzen. Es gehört zum Lieblingshabitus der Journalisten, sich selbst als die unerschrockenen Retter der öffentlichen Belange zu inszenieren. Doch viel zu oft ist ihre Kritik an den Politikern wohlfeil und wiederholt nur bereits fünfmal Gesagtes, was nicht gerade eine risikoreiche Strategie des Kampfes um das Gute ist. Für Tissy Bruns dienen viele Attacken der Medien auf Politiker vor allem der Selbstvergewisserung der eigenen Rolle: »Der Zweifel an uns selbst hat einen verlässlichen Blitzableiter: die Politiker auf der anderen Seite der Barrikade. Nach dem Motto ›Viel Feind, viel Ehr‹ erhebt sich unser Selbstbewusstsein auch über die inneren Anfechtungen. Wenn Politiker uns tadeln, dann haben wir etwas richtig gemacht. Dabei kostet es wenig, einen Fraktionschef oder Minister in Grund und Boden zu schreiben; Journalisten im 21. Jahrhundert brauchen mehr Zivilcourage, wenn sie ihren
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