Die erregte Republik
Politikbetriebs, wo kaum eine Handlung einzelnen Personen zuzurechnen ist, die konkreten Erfolgserlebnisse. Sie wird zum Tätigkeitsnachweis, bestätigt die eigene Wichtigkeit und zeigt den Leuten daheim im Wahlkreis, dass ihr Mann oder ihre Frau in Berlin Erfolg hat. Gleichzeitig |185| entschuldigt ein kurzfristig anberaumter Fernsehauftritt das verpasste Klassentreffen, den versäumten Abend im Freundeskreis und das ausgefallene Essen mit der Familie – denn schließlich können einem ja alle im Fernsehen zugucken, auch wenn man selbst nicht da ist. Vor allem aber bedeutet TV-Prä senz ungeteilte Aufmerksamkeit. Und nach dieser sehnen sich alle Politiker, die in der Kakophonie einer parlamentarischen Demokratie mitmischen, und sie lässt sie auch 80-Stunden-Wochen scheinbar unberührt überstehen. Medienpräsenz ist ein Teil von Machtausübung, und an der Ausübung von Macht haben Politiker Lust. Das ständige Agieren in hyperbeschleunigten Kontexten zwischen Headlines und Deadlines ist für die allermeisten von ihnen nicht Last, sondern Lust, es gibt ihnen den Kick, den sie brauchen, um sich ihrer eigenen Bedeutung zu versichern. Lässt die Anspannung nach, sinkt der Adrenalinspiegel, setzt bei vielen Politikern fast unmittelbar der Phantomschmerz ein. Politische Überzeugungen sind bei diesem ständigen Spiel mit dem ultimativen Thrill zwar nicht bedeutungslos, treten aber im Verlauf einer Politikerkarriere immer stärker hinter persönliche Antriebe zurück. »Macht ist«, bekannte Jürgen Möllemann freimütig, »wenn man ehrlich ist, das zentrale Motiv, Politik zu machen. Ich will nicht nur sagen, was gemacht werden muss, ich will es machen.« 162
Doch Politik ist nicht nur Sucht an sich, sondern begünstigt auch korrespondierende Suchtverhalten. Da ist auf der einen Seite der enorme Druck. Politiker agieren immer an verschiedenen Fronten gleichzeitig: im Wahlkreis, innerhalb der eigenen Partei und Fraktion, auf der Medienbühne, im Hinterzimmer, gegenüber den Wählern. Der Zwang, auf allen Ebenen gleichzeitig Höchstleistungen zu vollbringen, verbindet sich für die meisten Politiker mit einer zerstückelten persönlichen Lebensführung: die Sitzungswochen in Berlin, die sie meist in |186| spartanischen Abgeordnetenwohnungen verbringen, die sitzungsfreie Zeit daheim im Wahlkreis. Dazwischen Auslandsreisen, Parteitage, Konferenzen. Und immer wieder Kommunikation, Fühlunghalten, sich der eigenen Leute durch SMS oder Telefonate versichern. Dass ein solches Leben suchtanfällig macht, dürfte wohl auf der Hand liegen. Dies galt schon für Bonn. »Der Bundestag ist eine unglaubliche Alkoholikerversammlung, die teilweise ganz ordinär nach Schnaps stinkt«, stellte der Parlamentsneuling Joschka Fischer zu Beginn seiner Bonner Zeit fest. 163 Einige Jahre später, im November 1988, sendete das ARD-Magazin
Panorama
einen Film über die »Suchtgefahr bei Abgeordneten und Ministern«. Dort sah man den FDP-Abgeordneten Detlef Kleinert, von Joschka Fischer regelmäßig als der »schwankende Teil der Koalition« verhöhnt, wie er, aus »Ossis Bundeshaus Bar« kommend, im Plenum das Wort ergriff und sich über die Aussage seines Vorredners empörte, die Mehrheit des Bundestags sei der Diskussion mit den Bürgern nicht gewachsen. Kleinert lallte: »Wir haben es nicht nötig, uns hier von einigen, die eine Außenseiterrolle zur persönlichen Hochsteigerung missbrauchen wollen, haben wir es nicht nötig, dieses Parlament missbrauchen zu lassen.« 164
Heute in Berlin ist das nicht viel anders. Der schleswig-holsteinische FDP-Politiker Wolfgang Kubicki berichtete im März 2010 in einem skandalträchtigen Interview mit der
Zeit
, warum er trotz seines erheblichen Einflusses in der FDP in Kiel bleibe, statt in die Bundespolitik zu wechseln. Das klang dann so: »Ich würde in Berlin zum Trinker werden, vielleicht auch zum Hurenbock. Ich bin inzwischen zum dritten Mal verheiratet, und ich will auf keinen Fall auch diese Ehe ruinieren.« Denn das politische Leben in Berlin sehe doch so aus: »Sie sind den ganzen Tag unter Druck, abends wartet Ihr Apartment auf Sie, sonst niemand. Es gibt einen enormen Frauenüberschuss, denn |187| wenn Sie den gesamten Politikbetrieb nehmen, kommen Sie auf schätzungsweise 100 000 Leute, in Parlament, Regierung, Verwaltung, Botschaften, Verbänden und Medien, davon 60 Prozent Frauen. Ich weiß doch, wie es läuft: Da sind dann diese Abende, an denen Sie nur abschalten wollen, Stressabbau. Da
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